Wahlsiege der AfD : Nie wieder Nazis – aber wie?
Pflichtgemäße „Brandmauer“-Rhetorik bei allen demokratischen Parteien, aber was kann die liberale Demokratie real tun, um ihre geplante Abschaffung durch die AfD zu verhindern?
Von UDO KNAPP
taz FUTURZWEI, 04.07.2023 | Der Landkreis Sonneberg im Süden von Thüringen gehört zu den kleinsten Landkreisen in der Republik. Seine wirtschaftliche Lage wird wegen eines dichten Industriebesatzes als sehr gut bewertet. Es gibt seit Jahren hohe, lokale Zuwächse bei den Löhnen, und die Arbeitslosenquote liegt niedriger als im Landesdurchschnitt. Hier wurde gerade der erste AfD-Politiker zum Landrat gewählt: Robert Sesselmann, Rechtsanwalt, AfD-Landtags- und Kreistagsabgeordneter. Er gewann mit 52,8 Prozent der 48.000 Wahlberechtigten gegen den CDU-Amtsinhaber.
Sesselmann gehört zum Höcke-Flügel der AfD, der wie seine Landespartei vom Verfassungsschutz des Landes Thüringen als rechtsextremistisch eingestuft wird. Er hat bei Wahlkampf-Auftritten den Austritt aus dem Euro, die Aufhebung der Russlandsanktionen, ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine, eine Beschleunigung von Abschiebungen und eine Begrenzung der Zuwanderung über das Asylrecht in die deutschen Sozialsysteme, sowie ein Ende der „linksgrün versifften Verbotsorgie“ (Zitat aus einer Wahlkampfrede) in der Klimapolitik verlangt.
AfD als Volkspartei?
Die AfD in Thüringen rangiert ein Jahr vor den Landtagswahlen in den Umfragen in Thüringen mit derzeit 28 Prozent auf Platz 1. Im Bund liegt die AfD im Augenblick in einer Umfrage gleichauf mit der SPD bei 21 Prozent, nur noch drei Prozentpunkte hinter der führenden CDU. Ihre Parolen, ihre Forderungen gehören für 28 Prozent der Deutschen nach jüngsten Umfragen zum selbstverständlichen Politikangebot der Republik. Die AfD ist offenbar auf dem Weg zur Volkspartei und auf dem Weg, der CDU auf der konservativen Seite des politischen Spektrums die hegemoniale Diskursvormacht abzunehmen. Am vergangenen Sonntag wurde in Raguhn-Jeßnitz im Landkreis Anhalt-Bitterfeld nun auch der erste AfD-Bürgermeister gewählt.
Nun gibt es pflichtgemäßes Entsetzen aller übrigen Parteien über den Erfolg einer offen rassistischen, nationalistischen, antisemitischen und revanchistischen Partei, die einen autoritären Umbau des politischen Systems der Bundesrepublik zu ihrem zentralen politischen Auftrag erhoben hat. Damit wird demokratische Gesinnung demonstriert, mehr aber nicht. Zugleich erodieren die sogenannten „Brandmauern nach rechts“. Zwar wird der „Kampf gegen rechts“ rituell beschworen, aber eine Zivilgesellschaft gibt es nicht, wie etwa in Israel, wo derzeit jedes Wochenende Zehntausende auf den Straßen die Dekonstruktion der Gewaltenteilung verhindern wollen und den Sturz Netanjahus betreiben. Sie sind alle, Männer und Frauen, militärisch ausgebildet. Sie haben ihre Reservistenwaffen im Schrank und sie würden wohl auch in den Bürgerkrieg gegen die fundamentalistischen Religiösen ziehen, um Freiheit und Demokratie in Israel zu sichern.
Schielen nach den Ängsten der Mehrheiten
Eine inhaltlich streitende, aber im Grundsatz geeinte, demokratische politische Elite in der Republik gibt es nicht, die dem AfD-Narrativ von der autoritären Alternative zur parlamentarischen Konsenssuche ein Programm machbarer, wenn auch belastender Pfade in die nachfossile, digitale und KI-gesteuerte, demokratische Zivilisation entgegensetzen würde. Stattdessen wird in allen Parteien jenseits der AfD an der Erzählung festgehalten, dass diese unausweichliche Transformation für alle Bürger ohne Schmerzen und Anstrengungen vollzogen werden wird, was zu Recht immer weniger glauben. Anstatt „autokratisch zu herrschen, aber im Geiste des Republikanismus zu regieren und so Zufriedenheit im Volk und Stabilität der politischen Ordnung zu erzeugen“, wie es bei Kant heißt, besteht ihre Politik in anbiederndem Schielen nach den Ängsten der Mehrheiten. Dieses Versagen eröffnet der AfD den Handlungsraum, mit den Instrumenten der pluralistischen Demokratie autoritäre Politikmuster mehrheitsfähig zu machen.
Die AfD kann dabei an Verdrängtes und an eingehegte Selbstentschuldigung von der deutschen Geschichte anknüpfen. Abgesehen von den in Nürnberg gehenkten Hauptverbrechern ist die überwiegende Mehrheit der Deutschen in Ost und West niemals ernsthaft zur Verantwortung gezogen worden für die Verbrechen, die sie in der Naziherrschaft mitbegangen und mitgetragen haben. Die BRD-Deutschen sind nach 1945 gezwungenermaßen und unter westlicher Aufsicht zu Demokraten mutiert. Immerhin. Aber mit dem ritualisierten „Nie wieder“ in ihren Sonntagsreden und dem Beschweigen ihrer Schuld glaubten sie sich schon bald aus dem Schlamassel raus und von aller Verantwortung befreit.
Die DDR-Deutschen waren in der Diktatur der SED bis 1990 eingemauert. Aber große Mehrheiten der Älteren stilisieren heute ihr Leben dort als erträglich, glücklich und beschaulich. Tenor: Hier wussten sie wenigstens immer, was erlaubt war und was nicht. Vor allem waren sie von jeder Selbstverantwortung für die ganze Gesellschaft befreit. Für die Zukunft war allein die Partei zuständig. Durch die ihnen geschenkte Wiedervereinigung brauchten sie sich bis heute nicht aus der mentalen Verpuppung in ihrer untergegangenen Welt zu lösen.
Eine reale politische Option für größere Teile der Wählerschaft
Nazi-Diktatur und SED-Herrschaft haben in weiten Teilen der Republik, auch bei den Kindern und Enkeln der Mittäter und Mitläufer, ihre abschreckende Wirkung verloren. Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus plus autoritäre illiberale Herrschaftsstrukturen sind für manche Leute heute wieder eine Alternative zum – aus ihrer Sicht - demokratischen „Gehampel“ der politischen Eliten in der repräsentativen Demokratie. Ein Umbau der Bundesrepublik in eine autoritäre, illiberale Demokratie, geführt von der AfD, ist keine rechtsradikale Luftnummer mehr, sie ist eine reale politische Option für größere Teile der Wählerschaft.
Was kann man nun wirklich tun? Wenn die übrigen Parteien ihr eigenes Gerede vom Dammbruch ernst nehmen würden, dann müssten sie innen- und rechtspolitisch gegen die AfD und deren Anhänger vorgehen. Dafür müssten allerdings die liberalen Freiheiten für alle so weit eingeschränkt werden, dass ihre demokratisch verkleideten Feinde sie nicht mehr missbrauchen und dazu benutzen können, sie abzuschaffen.
Gerade Linke und Grüne müssten im Interesse der Erhaltung der demokratischen Freiheiten ihre Unterstellung vom ewig übergriffigen Staat aufgeben, der unberechtigt gegen moralisch selbstlegitimierte Rechtsbrüche vorgeht, die ihnen selbst in den Kram passen; etwa die von Klima-Aktivisten. Sie müssten sich uneingeschränkt auf den vorgegebenen Verfassungsrahmen demokratischer Mehrheitsbildung beschränken. Ein Grüner Innenminister, zum Beispiel, der in diesem Sinne handelte, wäre ein überzeugendes Signal dafür, dass es in der Bundesrepublik bei allen demokratischen Kräften den Willen gibt, auch mittels der politischen Selbstkontrolle den Rechtsstaat und die demokratischen Freiheiten zu verteidigen. Sonst wird aus dem „Nie wieder“ die nächste deutsche autoritäre Herrschaft.
UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.