Wahlkampf in den Niederlanden: Rot-grüner Messias sucht Mehrheit
Ex-EU-Kommissar Frans Timmermans kehrt als Retter der Linken in die Niederlande zurück. Sozialdemokrat*innen und Grüne sind euphorisch.
Der Ort wirkt sorgfältig ausgewählt: eine proletarische Vergangenheit als Zigarettenfabrik, die Gegenwart ist kreativ, innovativ, progressiv, unterschiedliche Betriebe kommen hier zusammen. Passend zum Schulterschluss, den rote und grüne Fahnen am Eingang verkünden.
Einige Stunden zuvor haben die Mitglieder von Timmermans’ Partij van de Arbeid (PvdA) und GroenLinks, die bei den Neuwahlen im November erstmals eine gemeinsame Liste bilden, ihn mit knapp 92 Prozent bestätigt – ein mehr als deutliches Ergebnis, auch wenn der frisch abgetretene Vizepräsident der EU-Kommission der einzige Kandidat war.
Der Saal ist zum Bersten gefüllt, die Vorfreude groß. Schon seit der 62-Jährige im Juli verkündete, nach Den Haag zurückzukehren, um Premier zu werden, ist die Euphorie an der Basis beider Parteien spürbar. Sie entlädt sich in standing ovations, sobald er zu sprechen beginnt.
Ziel ist ein linker Premier
„Macht ist kein schmutziges Wort“, unterstreicht Timmermans seine Ambitionen gleich zu Beginn. Natürlich kommt jemand wie er nicht mit dem Ziel, Fraktionschef einer schrumpfenden Oppositionspartei zu werden. Genau das aber sind PvdA und GroenLinks in den letzten Jahren.
Insofern wirkt dieses Ziel – ein linker Premier in Den Haag – vermessen. Arithmetisch, aber auch inhaltlich, denn welche Krisen das Land in diesem Jahrhundert auch erschütterten, eines zeichnete die niederländischen Wähler*innen aus: ein stetiger Hang nach rechts.
Inzwischen hat die neue Verbindung, von ihrem Spitzenkandidaten durchweg „Vereinigte Linke“ genannt, in den Umfragen zugelegt und könnte nach aktuellem Stand tatsächlich die meisten Stimmen bekommen. Der bevorstehende Abgang des skandalumwitterten Premiers Mark Rutte und mehrerer anderer bekannter Abgeordneter bringt einiges an Dynamik.
Ein Neuanfang
Auch Protestparteien wie die BoerBurgerBeweging (BBB) oder die gerade erst gegründete Nieuw Sociaal Contract des sehr beliebten abtrünnigen Christdemokraten Pieter Omtzigt könnten die Wahlen am 22. November gewinnen.
Timmermans nutzt die von einer Moderatorin gestellten Fragen, die Mitglieder vorher schickten, um sich innerhalb dieses Spektrums zu positionieren. Wie?
Mitte-links ist insofern eine zutreffende Bezeichnung, als dass „Mitte“ im niederländischen Kontext derzeit einen Neuanfang bedeutet: weg von der empathielosen, bürger*innenfernen Politik der letzten Jahre, von der sich ein wachsender Teil der Menschen nicht mehr vertreten fühlt. „Das Vertrauen wiederherstellen, ineinander und in den Staat“, nennt Timmermans das. Ein Ziel, das die BBB oder Pieter Omtzigt ganz ähnlich formulieren.
Nur wenn die Klimapolitik gerecht ist
„Links“ wiederum ist die starke Betonung, dass der Staat gerade in diesen Zeiten aktiv eingreifen müsse, um die Existenz seiner Bürger*innen zu sichern, vor allem beim Thema Wohnen. „Umverteilung auf der Grundlage von Solidarität“ nennt der Spitzenkandidat das.
Sein besonderes Augenmerk gilt dabei der Klimapolitik, die auch in den Niederlanden von populistischer Seite als unsozial angegriffen wird. Timmermans hat eine deutliche Botschaft: „Lasst euch von niemand erzählen, dass beide Themen nicht zusammengehören. Klimapolitik geht nur, wenn sie gerecht ist!“
Timmermans, ein Roter mit grüner Reputation, verkörpert diesen Ansatz und war auch deshalb als Spitzenkandidat konkurrenzlos. An der Basis genießt der Rückkehrer aus Brüssel großes Vertrauen. Gerard van Oosterhout, 86 und PvdA-Mitglied seit 68 Jahren, der den Abend für seinen Youtube-Kanal gefilmt hat, ist am Ende „hoffnungsvoll“. Die 25-jährige Sam Schwancke, GroenLinks-Mitglied, denkt, dass Timmermans „in der neuen Regierung für die Dringlichkeit von Klimaschutz einsteht und dafür sorgt, dass dieser nicht immer verwässert wird.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative