Wahlkampf in Stuttgart: Wenn Grüne Betreuungsgeld wollen

In Stuttgart konkurriert der Grünen-Chef Özdemir zur Bundestagswahl mit einem modernen CDUler. Es geht darum, wer die Mitte dominiert.

Kommt zu spät: Cem Özdemir am Bauzaun von Stuttgart 21. Bild: dpa

STUTTGART taz | Manchmal ist es nicht leicht, Chef einer Volkspartei zu sein. Cem Özdemir, 47, blickt aufmerksam zu der älteren Dame mit rotem Kurzhaarschnitt hinüber, die sich jetzt das Mikrofon nimmt.

Es ist heiß in der renovierten Scheune im Stadtteil Degerloch, es riecht nach alten Holzbalken, Özdemir hat längst sein Jackett ausgezogen. Vor ihm sitzen 90 Zuhörer, gediegen bürgerliches Publikum, Grünen-affin, die Herren im Kurzarmhemd, die Frauen in schlichten, gebügelten Blusen. Fragerunde.

„Warum“, fragt die Dame also, und ihre Stimme zittert nur anfangs. „Warum propagiert ihr Kitas für alle Kinder?“ Sie redet sich in Rage. Viele junge Mütter fänden ihren Job eben nicht prickelnd und würden sich lieber um ihr Kleinkind kümmern, da wäre doch eine Entschädigung vom Staat nur angebracht. Die Dame ruft: „Gebt den jungen Eltern diese Freiheit!“ Kräftiger Applaus, zum ersten Mal an diesem Dienstagabend.

Der Wahlkreis: Der bürgerlich gestrickte Wahlkreis Stuttgart I ist einer von zwei Wahlkreisen in der Landeshauptstadt Baden-Württembergs. Er umfasst große Teile der Innenstadt, aber auch südliche Ortsteile wie Degerloch.

Die Kontrahenten: Grünen-Chef Cem Özdemir will Stefan Kaufmann von der CDU das Direktmandat abjagen. Ute Vogt, die SPD-Kandidatin, hat keine Chance. 2009 lag Kaufmann mit 34,4 Prozent der Erststimmen vorn. Özdemir schaffte damals 29,9 Prozent, Vogt 18 Prozent. (us)

An der Stelle ist angebracht kurz innezuhalten. Die Grünen, das ist die Partei, die sich für fortschrittlich hält. Eine Dame, die später sagen wird, dass sie selbstverständlich grün wählt, fordert bei einer Veranstaltung des Grünen-Ortsverbandes ein Betreuungsgeld, so, wie es die CSU in Bayern will. Und alle klatschen.

Grüne für Betreuungsgeld

Herzlich willkommen im Wahlkreis Stuttgart I, wo Grüne anders ticken als im Rest der Republik. Özdemir sitzt hier und hat Schweißperlen auf der Oberlippe, weil er ihn gewinnen will. Deshalb erklärt er ausführlich, dass er jeden Lebensentwurf respektiert, auch den der Fragerin, dass er aber die Finanzierung von Kitas wichtiger findet.

Wie gesagt, es ist nicht leicht.

Degerloch liegt in Halbhöhenlage, ein Wort, das so nur in Stuttgart existiert und in Immobilienanzeigen mit „HHL“ abgekürzt wird. Es bezeichnet die exklusive Wohnlage an den Hängen über dem Stuttgarter Kessel. An Fachwerkhäusern ranken Weinreben, eine Kirchenglocke läutet, die Bürgersteige sind sauber gekehrt. Hier leben die aufgeklärten Bürgermilieus, die sich bei der Landtagswahl 2011 enttäuscht von der Mappus-CDU abgewandt und den Grünen ihren historischen Sieg in Baden-Württemberg ermöglicht hatten.

Inzwischen ist viel passiert. Der Ministerpräsident heißt Kretschmann, der Oberbürgermeister Kuhn, die Grünen sind Regierungspartei. Und sie haben Sympathien verloren durch die wirre Schulpolitik, durch Stuttgart 21 und ein paar andere Dinge. Der Reiz des Neuen ist dem Alltagsgeschäft gewichen. Und, Özdemir bekommt das zu spüren, viele in der Scheune sehen das nach links gerückte Bundesprogramm skeptisch.

Knapp 30 Prozent der Erststimmen

Er muss sich für die Erhöhung des Spitzensteuersatzes rechtfertigen, für die Abschaffung des Ehegattensplittings und für die Vermögensabgabe. Wer in Degerloch ein Einfamilienhaus besitzt, ist automatisch Millionär. Gewänne Özdemir hier, wäre es das zweite grüne Direktmandat der Republik. Er könnte sich in der nächsten Fraktion neben Christian Ströbele setzen.

Stuttgart neben Kreuzberg, jung neben alt, neue Bürgerlichkeit neben linkem Kernmilieu. Von dieser Symbolik kann Özdemir minutenlang schwärmen, und natürlich stärkte ein Sieg auch seine Position in dem Machtpoker nach der Wahl. Doch in Stuttgart I geht es um mehr als einen Karriereschub für den Grünen-Chef. Ganz vorn steht zum Beispiel die Frage, wer eigentlich hegemoniefähig ist in der bürgerlichen Mitte, also die Vorherrschaft hat. Die Grünen oder die CDU?

Sind die Grünen in der Lage, den Schwarzen auf Augenhöhe Konkurrenz zu machen, als, nun ja: Volkspartei? Und wenn ja, mit welchem Konzept von Bürgerlichkeit? Bei der Bundestagswahl 2009 hat Özdemir knapp 30 Prozent der Erststimmen geholt, sein Gegner von der CDU lag gerade mal viereinhalb Prozentpunkte vorn. Dieses Mal will er den Wechsel schaffen.

Stefan Kaufmann, 44, bestellt im Grand Café Planie am Karlsplatz einen Milchkaffee und eine mit Schokoguss überzogene Banane. Er ist der Platzhirsch, er muss sein Direktmandat gegen den grünen Angriff verteidigen.

Kaufmann, modische Brille, Gel im schwarzen Haar, pink Lacoste-Poloshirt, macht für einen so irren Tag einen sehr entspannten Eindruck. Er hat Geburtstag, einen Wespenstich am Finger von der Wahlkampfaktion im Freibad, abends kommt die Kanzlerin. Zwischendurch erklärt er eine Stunde lang, warum er sich in dem Duell vorne sieht.

Ganzer Mann für Stuttgart

Seine Strategie lässt sich mit drei Wörtern erklären: Präsenz, Nähe, Modernität. „Ich sage immer, Stuttgart erfordert den ganzen Mann.“ Ein direkt gewählter Abgeordneter vertrete die Interessen Stuttgarts in Berlin, er müsse die Stadt kennen und „idealerweise auch hier leben.“ Das ist eine Spitze gegen Özdemir, der sich erst neulich eine Wohnung gemietet hat.

Diesen Spin versucht die CDU vor Ort zu setzen. Der Grünen-Promi fliegt nur kurz aus Berlin ein, um sich das Direktmandat abzuholen, lässt sich dann aber nie mehr blicken. Was in jedem Fall stimmt, ist, dass Kaufmann dazu ein Gegenmodell wäre. Er ist in der Stadt bestens vernetzt. Auch während der Legislaturperiode fuhr er fast jedes Wochenende nach Stuttgart, besuchte Vereins-, Schul- und Kirchenfeste. Jetzt, im Wahlkampf, sind es eben ein paar mehr.

Als Kreischef hat Kaufmann den eigenen Laden behutsam modernisiert, er führte die Frauenquote im Kreisvorstand ein und unterstützte den parteilosen Werbeprofi Sebastian Turner bei seiner OB-Kandidatur, was bekanntlich schiefging. „Ich stehe für eine gesellschaftspolitische Modernisierung der CDU. Das ist bekannt, das verstecke ich auch nicht im Wahlkampf.“

Ach ja: Kaufmann ist schwul. In Berlin gehört er zu denen, die in der CDU für einen liberalen Kurs bei der Gleichstellung von Homosexuellen kämpfen. Kaufmann ist, wenn man so will, der Prototyp des modernen Großstadt-CDUlers. Er fährt eine ähnliche Strategie wie Merkel im Bund. Gegen diesen entspannten Typen, der auf Plakaten den Hemdkragen offen trägt, können Grünen-Wähler eigentlich nicht viel haben. Kaufmann setzt auf Bildung und eine offene Gesellschaft, er ist nett und sogar cool. Oder zumindest das, was man in der CDU dafür hält.

„Ich glaube, uns trennt nicht ganz so viel“

Müsste Kaufmann mit Özdemir eine Koalition aushandeln, wären sie sich in einer halben Stunde einig. Oder? „Ja“, sagt Kaufmann, oder eigentlich: Joaaaah. In die Länge gezogen. „Ich glaube, uns trennt nicht ganz so viel.“ Er lacht.

Der Anspruch, Volkspartei zu sein, bemisst sich nicht nur an Prozentpunkten, sondern auch daran, ein breites Spektrum von Meinungen zu integrieren. Das tun die Grünen hier, siehe Degerloch. Für Özdemir kommt es darauf an, die noch zarten Bande in diesen bürgerlichen Milieus zu stabilisieren. Weder darf bei diesen Mitte-Wählern die alte Gewohnheit siegen, noch darf das Pendel der Schwaben, denen ein feines Gefühl für Ausgleich nachgesagt wird, zurückschwingen. Gegen die Grünen. Werdet’s mal net übermütig, so in etwa.

Ein Frühstück im selben Café, Özdemir trinkt heiße Milch mit Honig für die Stimmbänder. „Im Bund ist der Begriff Volkspartei für die Grünen falsch. Aber in Stuttgart und Baden-Württemberg sieht es ein wenig anders aus.“ Er fährt die Strategie der ausgestreckten Hand, mit der auch Kretschmann erfolgreich war. „Dieser Stuttgart-Sound entspricht meinem Naturell und meinem Politikverständnis. Ich setze nicht auf die Methode Holzhammer, sondern ich lade ein.“

Die Grünen-Geschäftsstelle ist Özdemirs War Room. Sein Büroleiter hat einen Stadtplan an die Wand gehängt, darin stecken Dutzende Nadeln mit Kärtchen. So behält er den Überblick, dass die Veranstaltungen über den Wahlkreis gestreut sind.

Jung, Single, Akademiker

Özdemirs Leute setzen wie die SPD im Bund auf Haustürbesuche, sie nehmen sich gezielt Stimmbezirke vor, die erfolgversprechend sind. Viele Akademiker, viele Singles, jüngerer Altersschnitt.

Auch Özdemir klingelt an diesem Dienstagnachmittag persönlich an jeder Tür. Er nimmt zwei Stufen auf einmal bis in den vierten Stock, um kurz mit einem sowieso grün wählenden Studenten zu plaudern. Er zuckt mit keiner Wimper, als ihm ein Schwabe mit Bierbauch öffnet, der nur Unterhose trägt. Er gibt zwei Migrantenjungs in Jogginghosen die Hand. Özdemir, der sein Schwäbisch an- und ausknipsen kann wie eine Nachttischlampe, liegt das hier, Stuttgart, die spontanen Gespräche.

Vermutlich ist das Rennen wirklich offen. Özdemir hat den Promi-Bonus, Kaufmann den Vor-Ort-Bonus. Kaufmann kennen viele Leute, Özdemir erkennen sie – und diese Silbe wird nicht unwichtig sein. Kaufmann wirkt authentischer, Özdemir professioneller. Kaufmann muss erklären, warum die Bundes-CDU nicht so modern tickt wie er, Özdemir, warum die Bundes-Grünen linker sind als ihr Chef.

Natürlich erwischt ihn immer wieder die leidige Frage nach Schwarz-Grün. Nach der Koalition, die seine Partei offiziell hasst – die aber dem Gefühl nach zu Stuttgart passt wie Spätzleteig aufs Schabebrett. Zum Beispiel jetzt, als eine sportliche Mittdreißigerin, Pferdeschwanz, Baumwollshirt, an ihm vorbeilaufen will, die irgendwie sehr Grünen-affin aussieht.

„Information von den Grünen?“, fragt Özdemir und will ihr einen Werbeflyer reichen.

„Nein, ich weiß schon, wen ich wähle. Merkel ist schon ’ne Nette, oder?“ Der Flyer verharrt in der Luft.

„Ja, aber bei der kriegen Sie doch die Kristina Schröder mit dazu. Die ist im Paket mit drin.“

„Und bei Ihnen Steinbrück. Wie sieht’s aus mit Schwarz-Grün?“ Flyer auf dem Rückzug.

„Das wird dieses Mal nicht passen.“

Özdemir steckt das Papier in die Anzugtasche. Er weiß, wann er verloren hat. Zumindest diese eine Stimme.

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