piwik no script img

Wahlkampf in GroßbritannienLabour sucht Basis

Im Nordosten Englands wählt man Labour. Aber diese Wahl ist anders. Eine Spurensuche bei einer Partei, die sich ihrer selbst nicht mehr sicher ist.

Die Brexit-Party macht sich Hoffnungen, ist aber wenig sichtbar: Parteibüro in Hartlepool Foto: Daniel Zylbersztajn

Sutton-in-Ashfield/Hartlepool/Sunderland taz | Natalie Fleet sitzt im Leopardenmantel mit roter Rosette in ihren Wahlkampfbüro, ein umfunktionierter Laden in der Stadt Sutton. Die 35-Jährige ist Labour-Kandidatin für Ashfield in Nottinghamshire.

Es ist einer jener Wahlkreise im Norden Englands, die seit Jahrzehnten fest in Labour-Hand sind, aber jetzt an die Konservativen fallen könnten. Das legen zahlreiche Gespräche in Regionen nördlich von Nottingham bis hoch nach Sunderland nahe.

Ashfields bisherige Abgeordnete Gloria De Piero, mit italienischen Wurzeln, stand beim Brexit-Referendum 2016 auf der Remain-Seite. 70 Prozent des Wahlkreises aber stimmten für den EU-Austritt. Das müsse man respektieren, sagte sie, anders als viele in ihrer Partei. Bei den Wahlen 2017 schrumpfte ihre 9.000-Stimmen-Mehrheit auf 441. Im Juli beschloss die einstige Journalistin, sich nicht mehr aufstellen zu lassen, „wegen fehlender Toleranz in der Partei“, wie sie schrieb.

Ihr Mitarbeiter Lee Anderson ist jetzt Kandidat der Konservativen. Der 52-jährige ehemalige Bergarbeiter muss sich nicht mal groß anstrengen, um am 12. Dezember Kreuzchen von Brexit-Befürwortern für die Tories zu ergattern.

Die harte Arbeit bringt nicht nur Sympathie

Nun soll Natalie Fleet, Mutter von vier Kindern, Labour in Ash­field retten. „Wir versuchen die Leute aufzuklären und Themen anzusprechen wie die Kürzungen, mit denen die Tories Schulen und Gesundheitssystem schadeten“, schildert sie ihren Wahlkampf. Sie erwähnt einen Mord in der Nähe und die Schließung von zwei Polizeiwachen.

Wahlkampf in Großbritannien

Zu den Wahlen: Am 12. Dezember wählt das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland ein neues Parlament. Das Ergebnis wird über die Zukunft des Landes bestimmen: ob der Brexit vollzogen wird oder nicht, davon abhängig eventuell auch, ob der britische Gesamtstaat geeint bleibt oder nicht. Die taz begleitet den Wahlkampf mit einer lockeren Serie von Eindrücken aus unterschiedlichen Wahlkreisen und Milieus.

Die harte Arbeit bringt ihr nicht nur Sympathie. Vor einer Woche versuchte jemand, die Fensterscheibe ihres Parteibüros mit Ziegelsteinen einzuwerfen. Es missglückte, doch die Einschlagstellen sind klar sichtbar. „Ich bin von der Labour-Politik überzeugt, weshalb ich mich überhaupt als Mutter auf all das einlasse“, sagt sie über den Gewaltakt mit einer Menschlichkeit, die vergessen lässt, dass auch sie Politikerin ist.

Im Einkaufszentrum nebenan dominieren Discountläden, die Kundschaft ist übergewichtig. Auf einer Bank im grellen Neonlicht ruhen sich Arthur Pickaver, 73, Pauline Wood, 67, und Janet Straw, 60, vom Einkaufen aus. Die drei ehemaligen Fabrikarbeiter und Pflegekräfte geben an, früher Labour gewählt zu haben. Aber am 12. Dezember, sagen sie, erhält Johnson ihre Stimmen.

„Ich will die EU verlassen, Jeremy Corbyn hat das blockiert!“, sagt Pickaver, pensionierter Bergarbeiter. Die drei sprechen vom Recht, ihr Land zurückzubekommen, von Sozialsiedlungen voller Migranten auf einstigen Grünflächen, von Arbeits- und Aussichtslosigkeit. Ihr Ziel? Mit Johnson werde Großbritannien wieder Nummer eins auf der Welt, wie früher.

Industrielle Vergangenheit ist längst Geschichte

Über die Kandidat*Innen vor Ort verlieren sie kein Wort. Man sieht in Sutton auch keine Wahlplakate, wie sie normalerweise in Vorgärten oder an Fensterscheiben angebracht sind.

Jüdische Gemeinde warnt vor Labour-Wahlsieg

Die Vorwürfe: Ephraim Mirvis, Oberrabbiner Großbritanniens, hat erklärt, dass die Möglichkeit eines Labour-Wahlsieges „der überwiegenden Mehrheit der britischen Juden Angst macht“. In einem Aufruf, der am Dienstag die Schlagzeilen dominierte, erhob er schwere Vorwürfe: „Die jüdische Gemeinschaft hat fassungslos mitangesehen, wie Unterstützer der Labour-Führung Parlamentarier, Mitglieder und Mitarbeiter aus der Partei getrieben haben, die sich antijüdischem Rassismus entgegenstellten.“ Am Wahltag „geht es um die Seele unserer Nation“.

Die Reaktion: Labour-Chef Jeremy Corbyn erklärte am Nachmittag, eine Labour-Regierung werde keinen Antisemitismus tolerieren. Zuvor hatte Lord Dubs, Labour-Oberhausmitglied und 1939 als jüdisches Kind aus der Tschechoslowakei nach Großbritannien evakuiert, den Beitrag des Chief Rabbi als „unangemessen“ kritisiert. In sozialen Netzwerken beschimpften Labour-Sympathisanten Mirvis als Sprachrohr Israels.

Es ist ein Bild, dass sich vielerorts wiederholt, auch in Hartlepool 200 Kilometer nördlich. Die industrielle Vergangenheit der Stadt ist schon lange Geschichte. Das Leben spielt sich in Supermärkten und auf Parkplätzen ab. 36 Prozent aller Kinder leben hier in Armut, die Zahl der Drogentoten ist dreimal so hoch wie der nationale Durchschnitt. Wer Anwohner zur Wahl befragt, erhält eine von drei Antworten: „Weiß nicht“, „Ich wähle nie“ oder „Boris Johnson“.

Auch in Hartlepool waren 2016 fast 70 Prozent für den Brexit. Lange Zeit war Peter Mandelson hier der Labour-Abgeordnete, ein Vertrauter Tony Blairs. 2017 gewann Mike Hill für Labour noch mit einer Mehrheit von 7.000 Stimmen.

Jetzt mobilisiert sowohl die Konservative Partei als auch die Brexit Party kräftig. Ihr Kandidat ist Parteivorsitzender Richard Tice, Immobilien-Multimillionär aus dem Süden. Man sieht sogar Schilder der Brexit Party an den Schrebergärten am Stadtrand.

Für den Eisenbahner John ist die Brexit Party jedoch nicht die Partei seiner Wahl. Während der 50-Jährige vor seiner Schrebergartenhütte Gemüsereste in einen weißen Eimer kippt – „Frühstück für die Hühner“ –, erklärt er seine Philosophie: „Ich stehe auf meinen eigenen Füßen, und so muss es auch mit dem Land sein.“ Also Brexit. Früher wählte er Labour, „so wie alle hier“, doch nun gehe seine Stimme an Boris Johnson. „Labour ist keine Partei mehr für uns Arbeiter, sie dient den Leuten im Süden. Die Investitionen, die Labour verspricht, kommen doch hier nie an.“ Johnson würde zumindest den Brexit liefern, auch wenn er nur eine unter mehreren nicht besonders guten Optionen sei.

Es ist Wahlkampf in Großbritannien – heute in Sutton-in-Ashfield, Hartlepool und Sunderland Foto: infotext-berlin.de

Auch Carol Moon hat erwogen, wegen des Brexit die Konservativen zu wählen. Die 37-jährige Managerin der traditionsreichen Metzgerei Morrells im Herzen Hartlepools – Spezialiät: Schweinepastete mit Ale – tendiert jetzt nach Gesprächen mit Kunden wieder zu Labour. „Mit großer Zurückhaltung“, betont sie, „denn die Gestalt Corbyns finde ich abstoßend.“ Sie habe aber Sorge vor einer Privatisierung des Gesundheitssystems. „Wenn es die Möglichkeit gäbe, für niemanden zu stimmen, würde ich das ankreuzen“, versichert sie.

Es wird eine schwierige Wahl, gesteht Jonathan Brush, Labour-Organisator in Hartlepool. Doch ein Pochen auf Labours Programm werde zum Sieg führen, meint er: „Am Ende kümmert sich Labour, in einer Gegend, die stark unter den Kürzungen der Tories leidet.“

Es gibt Labour-Stimmen. Aber sie sind nicht die lautesten. In der Nachbarstadt Sunderland diskutieren Sarah und Robert auf einer Bank in der Fußgängerzone über Politik. „Nur Boris wird Brexit liefern. Corbyn wird uns bankrott machen“, behauptet Robert selbstbewusst. Pflegerin Sarah nickt schüchtern, doch gesteht später, dass sie Labour wählen wird. „Labour wird den Ärmeren eher helfen, glaube ich. Es ist mehr Gefühl als Wissen.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!