Wahlkampf in Großbritannien: Unter Europafreunden
Kate Hoey tritt im Londoner Wahlkreis Vauxhall an, einer Labour-Hochburg. Die Brexit-Enthusiastin muss um ihren Sitz bangen.
„Mein Einsatz gilt vor allem den Armen“, erklärt die 70-jährige Labour-Politikerin. Selbstverständlich ist sie gegen Studiengebühren oder für die Homoehe. Zugleich ist sie leidenschaftliche Verfechterin des englischen Liberalismus: „Ich mag es nicht, wenn der Staat Leuten vorschreibt, wie sie zu leben haben.“ Auch sich selbst lässt sie nichts vorschreiben.
In ihrer 28-jährigen Laufbahn als Abgeordnete eckte Hoey immer wieder in ihrer Partei an: Sie stimmte gegen schärfere Waffenkontrollen, gegen Rauchverbote, für die Fuchsjagd und gegen den Irakkrieg, was sie 2003 das Amt der Sportministerin in der Regierung von Tony Blair kostete. Hoey ist auch seit Langem Kritikerin der EU. Beim Brexit-Wahlkampf im Vorjahr schloss sie sich der radikalsten Brexit-Kampagne an: „Leave EU“ des damaligen Ukip-Führers Nigel Farage. Sie machte sogar mit ihm Wahlkampf.
In ihrem Wahlkreis Vauxhall stimmten aber 78,6 Prozent der Wähler für den Verbleib in der EU, der höchste Prozentsatz im Land mit Ausnahme Gibraltars. Einige dieser EU-Befürworter wollen Kate Hoey bei den Parlamentswahlen am 8. Juni dafür bestrafen. Sie scharen sich um die oppositionellen Liberaldemokraten, die mit dem 34-jährigen investigativen Journalisten George Turner antreten. Auf Lib-Dem-Flugblättern sieht man eine Fotomontage: ein Gesicht, halb Hoey, halb Farage. Wer in Vauxhall Labour wählt, kann auch gleich Ukip wählen, so die Botschaft.
Weit verbreitete Skepsis
Der Lib-Dem-Kandidat Turner trägt einen Vollbart und einen gepflegten Pagenschnitt. Mit seiner freundlichen Stimme, meist leger im Sakko auftretend, macht Turner einen selbstbewussten Eindruck. In seinem kleinen Wahlbüro in der Marktstraße Low Marsh drängen sich an die 25 Personen und füllen enthusiastisch Briefumschläge. Dass Turner sie auf Flugblättern mit Farage gleichsetzt und im Grunde als Rassistin hinstellt, empfindet die Labour-Gegnerin Hoey als Unverschämtheit. „Ich habe im Parlament für die Aufnahme von mehr Kinderflüchtlingen gestimmt. Warum sollen wir nur weiße Europäer aus Rumänien und Bulgarien reinlassen und nicht mehr Bewohner des Commonwealth“, sagt Hoey.
Im Gespräch mit der taz weist Turner den Vorwurf von sich, er habe Hoey rassistisch genannt. Hoey selber habe gemeinsam mit Farage posiert, erinnert der Liberale. „Hinzu kommt, dass Ukip in Vauxhall ihr zuliebe keinen eigenen Kandidaten aufstellt.“ Hoeys Problem ist aber nicht nur ihre Pro-Brexit-Haltung sondern auch die Tatsache, dass von der Sozialhilfe abhängige Familien sich kaum an Wahlen beteiligen, auch ein Grund für die Anti-Brexit-Stimmung in Vauxhall, glaubt sie.
Busfahrer Terry Williams, 65
Skepsis ist weit verbreitet. Busfahrer Terry Williams, 65, der an Diabetes leidet, sagt: „So geht es immer, sie versprechen viel, halten wenig. Alles Zeitverschwendung.“ Mark Delaney, 52, hat eine schwerbehinderte Tochter und einen Sohn und Enkel mit mentalen Problemen. Er glaubt, dass Europäer, die für weniger Geld oder gar nicht arbeiten, die Lage verschlimmert hätten. Wegen Corbyn, „dem Unterstützer der IRA“, wie ihn die rechte Presse tituliert, weil er sich vor Jahren mit Sinn Féin traf, will er, ein alter Labour-Wähler, seine Stimme diesmal Theresa May geben. Das sei ihm, aus protestantisch-nordirischer Familie, nach der Terrorattacke in Manchester noch klarer geworden.
Brexit nicht mehr wichtig?
Sein Nachbar, Tom Guha, 25, will ihn aber doch noch für Labour gewinnen. Keiner sonst stehe für die Interessen der Arbeiterklasse, versucht es Guha, ohne Erfolg. Auch der Finanzexperte Waqqas Ahmed, 34, der in einer Luxuswohnung an der Themse lebt, wo die Liberaldemokraten kräftig Werbung machten, wählt lieber konservativ, obwohl er den Brexit als falsch ansieht. Noch mehr Unsicherheit sei schlecht für die Wirtschaft, glaubt er.
Die Konservativen waren bei den letzten Wahlen immerhin zweitstärkste Partei in Vauxhall. Sollten die Lib Dems Labour genug Stimmen abnehmen, könnten sogar die Tories den Wahlkreis Vauxhall gewinnen. In der Fetiman Road, einer Straße mit sündhaft teuren Einzelhäusern, sieht man nur Wahlplakate der Lib Dems in den Vorgärten und Fenstern. Auch Helena Gaynor, 53, hat eins aufgestellt, zum ersten Mal in ihrem Leben. Als ehemalige Labour-Wählerin hat sie Schuldgefühle, gesteht sie, denn ihre erwachsenen Kinder seien alle ausdrücklich für Labour und hielten sie für verrückt. Doch als EU-Unterstützerin will sie eine offene Rechnung mit Hoey begleichen.
Laut Hoey geht es seit der Veröffentlichung der Wahlplattform mit Labour bergauf. Der Brexit sei nicht mehr das ausschlaggebende Thema. Auf dem Rasen vor einem zweistöckigen Sozialwohnungsbau aus den 60er Jahren sitzt Joanne Murphy, 59, mit Kindern und Enkeln in der Sonne. Murphy ist arbeitslos. „Hoey hat sich immer für uns eingesetzt“, sagt sie. Auch der Buchhändler Charlie Unsworth, 60, will Labour wählen. Auf Corbyns progressives Parteiprogramm habe er Jahrzehnte gewartet, schwärmt er. Kate Hoeys Haltung zum Brexit störe ihn, aber der Erfolg der Partei sei jetzt wichtiger. Viele teilen diese Ansicht.
Nur Joseph Coleman, 50, der in einer Sozialwohnung in Battersea lebt, will gegen den Trend von Wahlapathie und Labour-Enthusiasmus für die Liberaldemokraten stimmen. 15 Jahre habe er hinter Gittern sitzen müssen. Als ihm Insassen irgendwann beide Arme brachen, war es einzig die Berufung auf die Menschenrechte, die ihm half, sagt er. „Ich wollte nicht wählen, Politiker sind alle gleich, aber die europäischen Menschenrechte sind mir wichtig.“
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