Wahlkampf im Fußballstadion: 600.000 potenzielle Piraten
Die großen Parteien ignorieren den Fußball. Aber für die Piraten ist der Bundesliga-Auftakt Wahlkampftag. In ihrer Not buhlen sie intensiv um die Fans.
BERLIN taz | Die Wahlkampfzentrale der Piraten ist umzingelt von Wahlplakaten der Linken. Ein tätowierter Glatzkopf führt unweit seinen Kampfhund aus. Vor dem Fabrikgebäude in Berlin-Lichtenberg wird Schutt abgeladen. Hier, im tiefen Osten der Hauptstadt, trainiert die Partei für den fast schon aussichtslosen Sprung über die Fünfprozenthürde.
An einer Pinnwand im Innern des Gebäudes steht auf einem Zettel die wahrscheinlich selbstironisch gemeinte Frage: „Wie regieren?“ Antwort: „Ruhig bleiben und die Polizei rufen.“ Zwei zentrale Themen sind es, mit denen die Piraten Stimmen sammeln wollen. Da ist einmal der NSA-Skandal. Und dann der Fußball.
Den haben die Piraten pünktlich zum Beginn der Bundesliga für sich entdeckt. „Menschenrechte enden nicht am Stadiontor“, finden sie und haben zu einer Pressekonferenz geladen. Von 42 Stühlen bleiben 35 leer. Die Piraten machen alles selbst, sagt Vorsitzender Bernd Schlömer stolz, was wohl heißt: Sie halten nicht viel von politischer Inszenierung.
Die PK wirkt improvisiert, die gehörlose Bundestagskandidatin Julia Probst muss ohne Gebärdendolmetscher auskommen, und mitten in die Ausführungen platzt ein etwas älterer, den Laptop schwingender Digital Native mit den Worten: „Hier läuft irgendwas schief, bei mir gehen tausend Fenster auf!“ Aha.
Schlömer, der Fan des FC St. Pauli ist, spricht von „Käfighaltung“ und einem „Kesseltreiben“. Die Fußballfans würden gegängelt und überwacht, sie hätten keine Lobby, sagt er. „Es gibt starke Repressionen gegenüber Fans.“ Die Piraten, rattert Schlömer herunter, sind gegen Kollektivstrafen von Fans, gegen Nackt- und Vollkörperkontrollen, gegen die Datei „Gewalttäter Sport“, in der Tausende von Fans erfasst sind. Sie sind für den „kontrollierten“ Einsatz von Pyrotechnik und eine Kennzeichnungspflicht von Polizeibeamten.
Piratin ist Hertha-Fan
Am Wochenende wollen sie Flyer verteilen vor den Bundesligastadien. Aufgedruckt ist ein Anschreiben an die „Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze“ in Duisburg, wo Fans erfahren können, ob sie in der „Gewalttäter-Datei“ erfasst sind. Schlömer will vorm Stadion am Millerntor stehen und seine Botschaft verkünden, Parteifreundin Konstanze Dobberke will auf Herthaner zugehen. Sie ist Fan der Berliner.
Die Piraten sind nicht die Ersten, die den Wähler im Fußballfan entdeckt haben. So ziemlich alle Parteien beschäftigen sich mit dem Thema. Auch die NPD. Die Rechtsextremen sehen eine „Bedrohung und Beschneidung der Fankultur“, haben ein „latentes Klima der Angst“ unter Fans ausgemacht. Sie operieren mit den gängigen Schlagworten und wenden sich zum Beispiel auch gegen „Ganzkörperkontrollen“, um Fußballfans zu ködern. Im Parteiprogramm zur Bundestagswahl findet sich dazu allerdings nichts.
Die Piraten sind allerdings die einzigen, die sich in ihrem Wahlprogramm ausführlich mit dem Thema beschäftigen und dessen Wichtigkeit unterstreichen. Bei der FDP findet sich zwar der Passus: „Wir wenden uns gegen unverhältnismäßige Grundrechtseingriffe gegen Fußballfans.“ Aber das war es eigentlich auch.
Bei den großen Parteien sucht man in ihren Grundsatzpapieren vergeblich nach dem Wort „Fußball“. Die Grünen titeln im Stile ihrer „sportnarrischen“ Parteichefin Claudia Roth „Es lebe der Sport!“. Die Partei ist immerhin für eine Stärkung der Koordinationsstelle Fanprojekte, die sich für die Rechte von Fußballanhängern stark macht.
Die Linke schreibt: „Die Mittel für Fanprojekte gegen Gewalt und Diskriminierung sollen erhöht werden. Wir wenden uns gegen pauschale Verdächtigungen und Überwachungen von Fans.“ Man wolle die „Beteiligung von Fans an Vereinsentscheidungen verbessern“.
Politprosa aus dem Baukasten
Die SPD hat nicht mehr zu bieten als Politprosa aus dem Sprachbaukasten. Das klingt dann so: „Sport vermittelt Werte wie Toleranz und Fairness, Sport bringt Menschen zusammen.“ Die CDU möchte „die steuerlichen Rahmenbedingungen“ für sportliche Großveranstaltungen in Deutschland weiter verbessern und bekennt sich zu einem „Weiter so!“ im Leistungssport.
Aktuell liegen die Piraten in den Wahlumfragen bei drei Prozent. „Aber es sind 600.000 Leute, die jedes Wochenende in die Stadien der ersten bis dritten Liga gehen“, hat Piratin Konstanze Dobberke ausgerechnet. Ein paar davon, hofft sie, machen am 22. September ein Kreuzchen hinter ihrer Partei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja