Wahlen in Großbritannien: Nigel Farage ist wieder da
Der britische Brexit-Politiker Farage kandidiert jetzt doch für das Parlament. Seine Partei Reform UK will die Krise der Tories nutzen.
In Clacton will Farage nun erreichen, was ihm siebenmal bisher nicht gelang: der Einzug ins britische Unterhaus. Als der konservative Premierminister Rishi Sunak vor knapp zwei Wochen Neuwahlen für den 4. Juli ausrief, hatte Farage eine Parlamentskandidatur noch ausgeschlossen und wollte stattdessen Donald Trump in den USA helfen. Jetzt erklärte der 60-Jährige seine plötzliche Kandidatur zum „Notfall“ angesichts des Versagens der anderen Parteien in Sachen Einwanderung und sprach auch von Schuldgefühlen gegenüber jenen, die ihm lange zur Seite standen.
„Ich werde aufstehen und für euch kämpfen“, rief er im dunkelblauen Anzug mit lila Krawatte vor Hunderten Versammelten vor einem Fish-and-Chips-Imbiss. Die Konservativen hätten die Wähler verraten: „Sie haben die Grenzen zur Masseneinwanderung so weit aufgemacht, wie wir es noch nie zuvor erlebt haben. Dafür müssen sie einen hohen Preis zahlen!“
2022 lag das britische Zuwanderungssaldo bei 745.000 Menschen, mehr als je zuvor, 2023 immer noch bei 672.000. Einst hatte der konservative Premierminister David Cameron versprochen, die Zahl auf „Zehntausende“ zu senken. Dass er daran scheiterte, hatte er auf die Freizügigkeit innerhalb der EU zurückgeführt und 2016 war es ein Hauptgrund für das Votum der Briten für den Brexit. Nun kommen trotz Brexit noch mehr Menschen, und Farage will ein Nullsaldo – es sollten ruhig viele Menschen einwandern, aber nicht mehr als auswandern.
Der langweiligste Wahlkampf aller Zeiten?
Die Tories stünden vor dem Kollaps, so Farage. Sie und Labour seien sich ähnlich und lieferten den langweiligsten Wahlkampf aller Zeiten ab. Wo nichts mehr funktioniere, könnte einzig Dreistigkeit etwas verändern. Reform UK könnte sogar die Tories schlagen.
Christopher und Simon sind begeistert. Auf der Terrasse des Wetherspoon-Pubs gegenüber der Seebrücke erklären der 47-jährige Musiker und der 42-jährige Einzelhandelskaufmann, sie seien zufrieden. „Farage hat einen guten Ruf, Dinge offen auszusprechen und die Politik aufzumischen“, lobt Simon, während Christopher Farage als „Revolutionär“ lobt.
In Clacton hat Farage schon einmal Geschichte geschrieben. Dort bekam 2014 Farages damalige Partei Ukip ihren ersten Unterhaussitz, als der konservative Abgeordnete Douglas Carswell zu Ukip wechselte. Das hielt nur drei Jahre, 2017 holten die Tories den Sitz zurück. Aber zwischendurch beim Brexit-Referendum 2016 lag Clacton mit 70 Prozent Brexit-Stimmen mit an der Spitze landesweit.
Clacton ist eine verarmte Kleinstadt, fast ausschließlich weiß, bei der Volkszählung 2021 waren mehr als die Hälfte der 53.208 Einwohner:innen über 65 Jahre alt. Sie gelten als Farages Kernwähler:innen.
Er übertreibt mit seinen Argumenten
Mit 25 Jahren ist Victoria Bowen eine der wenigen Jüngeren in Clacton. Beim Einkaufen nach Farage gefragt, antwortet sie mit der Bezeichnung eines hinteren Körperteils unterhalb der Gürtellinie. „Ich werde die Stadt verlassen, wenn er hier punktet“, verspricht sie und schimpft: „Er übertreibt mit seinen Argumenten und ist meiner Meinung nach borderline-rassistisch!“ Sie werde am 4. Juli Labour wählen, nicht jedoch aus großer Überzeugung, gesteht sie, denn der ambitionierte Corbyn habe ihr besser gefallen als Starmer. Victorias Mutter sieht die Dinge anders. Sie tendiert eher in Richtung der Tories, aber sie wohnt gar nicht in Clacton.
„Farage kann den Menschen hier nicht helfen, aber es wird mit Sicherheit einen Medienzirkus geben“, glaubt beim Hundespaziergang am Strand der 47-jährige Peter Hoare. Er werde Labour wählen, die einzige Partei von der seine behinderte Mutter je profitiert habe, wie er sagt.
Am Strand gibt sich auch die 39-jährige IT-Expertin Lisa Lee-Jacobs fassungslos. Farage vertrete keine britischen Werte, sagt sie: „Britische Werte, das sind Toleranz und das Gemeinsame mit Menschen anderer Kulturen!“ Farage hingegen würde Leute gegeneinander aufhetzen. Aber auch sie glaubt, dass Farage wegen der Alten eine Chance hat.
Wobei nicht alle Alten für Farage sind. Ex-Pfleger Steve, 71, ebenfalls mit Hund am Strand unterwegs, will Farage ebenso wenig wählen, wie der nahezu zahnlose ehemalige Milchlieferant Steve Tyler, 72. Sie bleiben bei den Konservativen. „Die Tories hatten einfach nur Pech mit der Pandemie und dem Ukrainekrieg“, sagt Steve.
Farage will die Themen bestimmen
Nach Umfragen, die allerdings vor Farages Kandidatur entstanden, liegen die Tories in Clacton knapp vorn. Farage könnte seine Partei dort zum Sieg führen, glauben viele politische Beobachter:innen – aber landesweit dürfte Reform UK kaum Wahlkreise gewinnen. Sie könnten höchstens den Tories überall Stimmen abnehmen und damit den absehbaren Labour-Sieg noch weiter festigen. In manchen aktuellen Umfragen liegt der Labour-Vorsprung zu den Tories derzeit bei 24 Prozent, Keir Starmer könnte den Erfolg Tony Blairs 1997 sogar übertreffen.
Je schlechter die Tories abschneiden, desto mehr Chancen rechnet sich Farage für seine politische Zukunft aus. Seine Partei könnte langfristig die Konservativen als wichtigste Kraft der britischen Rechten ablösen – oder er selbst könnte ihre Führung übernehmen.
In jedem Fall wird sich Farage im Wahlkampf auf seine eigene Art bewähren, indem er wieder einmal die Themen bestimmt, so wie während der Brexit-Jahre. Tories wie Labour sprachen am Montag und Dienstag von nichts anderem, als wie sie die Einwanderungszahlen verringern würden. Für Farage bereits ein politischer Sieg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen