Ohne Wahl zur Wahl

In Belarus finden am kommenden Sonntag sogenannte Parlaments- und Kommunalwahlen statt. Internationale Wahlbeobachter sind nicht zugelassen. Warum auch? Die Ergebnisse stehen bereits fest

Stimmabgabe in Belarus: Der Weg hinter den Vorhang ist überflüssig Foto: Viktor Tolochko/imago

Aus Minsk Janka Belarus

Die vielleicht größte Neuerung bei den diesjährigen Parlamentswahlen in Belarus ist, dass sie zum ersten Mal in der Geschichte des Landes an nur einem Tag stattfinden. Der Grund ist simpel: Geld. Die Mittel, die der Staat für die Arbeit der Bezirkswahlkommissionen spart – am Sonntag sind gut 57.000 Menschen tätig – geht an die Armee.

Gewählt werden sowohl Mitglieder des Repräsentantenhauses der Nationalversammlung als auch Stadt- und Gemeindevertreter auf kommunaler Ebene. Für die 110 Sitze im Parlament kandidieren 265 Personen, hauptsächlich Vertreter der Partei Belaja Rus, die vor etwas weniger als einem Jahr zur Unterstützung von Staatschef Alexander Lukaschenkos gegründet wurde und aus dem Staatshaushalt finanziert wird. Bei den Stadt- und Gemeinderäten gibt es 12.515 Sitze zu verteilen, für die sich 18.802 Kandidaten bewerben. Das bedeutet, dass praktisch jeder Kandidat auch gewählt wird.

Fragt man die Belarussen, ob sie wählen gehen, lautet die Antwort häufig: „Warum? Die Ergebnisse von diesem Zirkus sind schon bekannt.“ So macht sich der Mittvierziger Alexei F. aus Minsk bereits im Vorfeld sarkastisch über den Bericht der zentralen Wahlkommission lustig: „Traditionell hoch lag die Wahlbeteiligung mit 80 Prozent bei der ländlichen Bevölkerung. Das zeigt, dass es richtig war, die Landwirtschaft zu fördern. Deutlich schlechter war die Beteiligung in der Hauptstadt mit nur 55 Prozent.“

Überprüfen lassen werden sich diese Zahlen nicht. Die Regierung hatte im Vorfeld unabhängige Wahlbeobachter der OSZE abgelehnt. Zugelassen sind nur 122 Beobachter aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), darunter auch aus Belarus und Russland. Was bedeutet das? Dass Lukaschenko ein Marionettenparlament hat, das nichts entscheidet und sich nicht um die Bevölkerung schert.

Informationen über die Kandidaten, die in Minsker Briefkästen landen, wandern in der Regel ungelesen in den Müll. Dabei sind es diese Menschen, die entscheiden sollten – nicht nur auf Landesebene, sondern auch in der direkten Nachbarschaft. Aber sehr wahrscheinlich tun sie es eben nicht. Oft leben Kandidaten für einzelne Stadtteile ganz woanders. Wie sollen sie die Probleme in ihrem Wahlkreis kennen?

Liest man die Biografien der Kandidaten dann doch, weiß man schon mit hundertprozentiger Sicherheit, wer gewählt wird. Oft reicht schon die Zugehörigkeit zur Partei Belaja Rus oder ein hoher Posten in staatlichen Apparaten.

Warum streben Menschen überhaupt einen Sitz im Parlament an? Aus finanziellen Gründen. Viele Wähler sind der Ansicht, dass Abgeordnetendiäten nicht auf dem Gehaltsniveau von Lehrern, Ingenieuren oder Anwälten liegen sollten. Denn hohe Diäten führen nur dazu, dass Abgeordnete das System der Korruption und die Interessen derjenigen verteidigen, die ihnen zur Macht verholfen haben.

Die Abgeordneten sind überzeugt, dass ihr Gehalt sich an der Entwicklung der belarussischen Wirtschaft orientiert. Journalisten haben aufgedeckt, dass Parlamentarier im Schnitt 1.600 Euro monatlich erhalten – vier Mal mehr als hochqualifizierte Spezialisten. Eine einfache Verkäuferin bekommt 300 Euro monatlich. So sieht er aus der belarussische Sozialstaat.

Parlamentarier werden für ihre reine Anwesenheit und ihre angebliche Beteiligung an Ausschussarbeit bezahlt. Dabei ist bekannt, dass Lukaschenko die Gesetze selber einbringt und die Abgeordneten sie nur unterschreiben. Gleichzeitig haben Abgeordnete auch das Recht, nebenbei woanders zu arbeiten. Viele sind zum Beispiel als Dozenten an Hochschulen tätig. Parlamentarier werden auch als Leiter von Einrichtungen und Institutionen eingesetzt.

Wahlprogramme bestehen oft aus populistischen Thesen: Lösung drängender Probleme der Bewohner des Wahlkreises, Förderung von gesunder Lebensweise und Sport, patriotische Erziehung von Kindern und Jugendlichen und die Unterstützung moralischer und christlicher Werte in der Gesellschaft. Dass aber vor dem örtlichen Supermarkt in ihrem Wahlkreis seit Jahren die Rampe fehlt, bemerken die Abgeordneten eher nicht …

Der Wahlkampf weist eine Zahl von Neuerungen auf. Die aktualisierte Verfassung und das Wahlgesetz legen großen Wert auf das Strafregister der Kandidaten. Kein Wunder, sitzt doch die eine Hälfte der Bevölkerung im Gefängnis, während die andere Hälfte sie bewacht.

Rechtskräftig verurteilte oder vorbestrafte Bürger, die ihre Strafe bisher nicht gesühnt haben, können sich nicht mehr für die Wahlen aufstellen lassen. Hingegen sind Menschen, die in Untersuchungshaft sind oder unter Hausarrest stehen, nicht nur wahlberechtigt, sondern können auch gewählt werden.

Informationen über die Kandidaten, die in Minsk in Briefkästen landen, gehen meist ungelesen in den Müll

Auch wer zum Beispiel eine ausländische Staatsbürgerschaft oder ein anderes Dokument eines ausländischen Staates besitzt, das mit Vergünstigungen verbunden ist, kann nicht Abgeordneter werden. Das betrifft Inhaber der „Polenkarte“, die fast jeder Einwohner von Grodno oder Brest besitzt. Viele Menschen im Westen von Belarus haben Verwandte in Polen, das ist historisch bedingt. Seit 2007 gibt Polen Dokumente aus, die die Zugehörigkeit von Ausländern zur polnischen Nationalität bestätigt. Das erleichtert die Visavergabe und die Reisefreiheit von Belarussen mit polnischen Wurzeln in Europa.

Auch für die Wähler gibt es Neuerungen. Es ist verboten, Stimmzettel aus dem Wahllokal mitzunehmen sowie Fotos des ausgefüllten Stimmzettels zu machen. An der Wahl zum Parlament dürfen nur Bürger der Republik Belarus teilnehmen. Auf lokaler Ebene sind allerdings auch Bürger der Russischen Föderation mit ständigem Wohnsitz in Belarus wahlberechtigt.

Praktisch von der Wahl ausgeschlossen sind alle, die Belarus nach den Protesten gegen die gefälschte Präsidentschaftswahl im August 2020 verlassen haben. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats schätzt ihre Zahl auf 200.000 bis 500.000. Zum Wählen müssten sie nach Minsk kommen, wo es genau ein Wahllokal für sie gibt. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Menschen dort festgenommen werden, liegt bei fast 100 Prozent. Am Wahltag gelten verschärfte Sicherheitsbestimmungen. Was das heißt, ist unklar. Es dürfte aber ein Grund sein, warum viele Belarussen gar nicht an die Urne gehen werden.

Aus dem Russischen: Gaby Coldewey