Wahl in Ostjerusalem: Müllabfuhr statt Widerstand
Seit Jahren boykottieren Araber in Ostjerusalem die israelischen Kommunalwahlen. Am Dienstag tritt nun erstmals ein Palästinenser an.
Am Dienstag werden in Israel landesweit neue Stadträte gewählt. Dabasch, der Chef der Partei „Al-Quds Baladi“ („Jerusalem, meine Stadt“), rechnet sich gute Chancen aus, als erster Palästinenser in den Jerusalemer Stadtrat einzuziehen.
Gut ein Drittel der Bürger Jerusalems sind Palästinenser. Dass die Stadt sie so maßlos benachteiligt und es nicht für nötig befunden hat, mehr Wahllokale einzurichten, geht allerdings ein Stück weit auch auf das Konto der Ostjerusalemer selbst. Seit dem Sechstagekrieg 1967, als Israels Truppen die Jordanier aus der Stadt vertrieben und fortan die Kontrolle über die gesamte Stadt übernahmen, boykottieren sie die städtischen Wahlen aus Protest gegen die Besatzung. Noch beim letzten Urnengang vor fünf Jahren gaben keine zwei Prozent der Wahlberechtigten in Ostjerusalem ihre Stimme ab.
„Das Rathaus repräsentiert mich nicht“, sagt die Palästinenserin Sahar Abassi aus dem Stadtteil Silwan. Abassi ist Leiterin der Frauenkooperative Mada, einer Selbsthilfegruppe für die Leute von Silwan, die unter der von radikalen Siedlerbewegungen vorangetriebenen „Judaisierung“ Ostjerusalems besonders leiden. Hunderte arabische Wohnhäuser in dem Viertel sind akut vom Abriss bedroht, weil sie ohne Genehmigungen errichtet wurden, oder auch nur weil sie Platz schaffen sollen für Touristen oder öffentliche Parkanlagen.
„Wir sind machtlos gegen die archäologischen Ausgrabungen, die schon viele Häuser in Silwan zum Einsturz gebracht haben“, sagt Abassi. Sie hat kein Vertrauen in die israelischen Behörden und noch weniger in die Politik. „Egal, ob dort ein Palästinenser vertreten ist oder nicht, es bleibt ein Besatzungsrathaus.“ Damit wolle sie nichts zu tun haben.
Wahl: Nicht nur in Jerusalem, sondern in insgesamt 251 Städten und Gemeinden wird am 30. Oktober gewählt. Die Israelis und ein Teil der Palästinenser wählen neue Stadt- und Regionalräte sowie neue Bürgermeister.
Termin: Erstmals ist der Wahltag ein Feiertag. Das soll die Wahlbeteiligung erhöhen. Bei den Kommunalwahlen 2013 lag sie nur knapp über 50 Prozent.
Tel Aviv: Mit Spannung wird erwartet, ob sich Ron Huldai als Bürgermeister von Tel Aviv erneut durchsetzen kann. Er regiert die Stadt seit 1998.
Jerusalem: Der bisheriger Bürgermeister Nir Barkat tritt nicht nochmal an. Mehrere Kandidaten konkurrieren um seine Nachfolge. Der palästinensische Kandidat Aziz Abu Sarah zog seine Kandidatur für das Amt des Bürgermeisters zurück. Ramadan Dabash kandidiert lediglich um einen Sitz im Jerusalemer Stadtrat. (hag)
Kandidat Dabasch sind solche Argumente vertraut. „Es ist schwer, die Leute zur Wahl zu motivieren“, sagt der 51-Jährige. Dabasch ist leicht übergewichtig, braungebrannt, hat dichte Augenbrauen und einen glatt rasierten Kopf. Sein Programm ist strikt lokalpolitisch: Er fordert eine gerechtere Verteilung der öffentlichen Gelder, mehr Schulklassen und eine bessere städtische Versorgung insgesamt.
„In ganz Ostjerusalem gibt es nicht ein einziges öffentliches Schwimmbad“, schimpft der zwölffache Familienvater, der mit vier Frauen unter einem Dach lebt. Der Frage, ob er mit allen gleichzeitig verheiratet sei, weicht er aus.
Die Palästinenser des von Israel annektierten Ostjerusalems dürfen zwar nicht an der allgemeinen Parlamentswahl teilnehmen, wohl aber an der Wahl des Jerusalemer Stadtrats. Ganz Jerusalem, so hält es ein Grundgesetz seit 1980 fest, ist Hauptstadt Israels.
Weil die Stadt nie wieder geteilt werden soll, haben Palästinenser mit Wohnsitz Jerusalem das Recht, die Staatsbürgerschaft zu beantragen. Die große Mehrheit scheut indes nicht nur die langwierigen Behördengänge, sondern entscheidet sich aus politischen Gründen dagegen. Die Staatsbürgerschaft der Besatzer anzunehmen, käme einer Akzeptanz der israelischen Kontrolle gleich. Die Mehrheit der Palästinenser empfindet es als nationalen Auftrag, Jerusalem für das palästinensische Volk zu bewahren.
Dieselben Gründe hielten die Ostjerusalemer bislang auch davon ab, an der Stadtratswahl teilzunehmen. In diesem Jahr zeichnet sich jedoch eine Trendwende ab. Umfragen des Palästinensischen Zentrums für Politik und Umfrageforschung zufolge wollen 22 Prozent der Ostjerusalemer an der Wahl am Dienstag teilnehmen.
Eine Studie der Hebräischen Universität kam sogar zu dem Ergebnis, dass 58 Prozent der Palästinenser in Ostjerusalem der Ansicht sind, sie sollten mit der Wahl eigener Vertreter im Rathaus ihre Interessen vorantreiben.
Die Wahlteilnahme grundsätzlich zu unterstützen und selbst zu wählen, ist allerdings nicht dasselbe. Scheich Mohammed Hussein, der Großmufti von Jerusalem, hat eine Fatwa erlassen, ein Verbot für fromme Muslime, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) in Ramallah und die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) riefen zum Boykott auf.
Die Stadt: In Jerusalem leben Christen, Juden und Muslime. Palästinensische Araber – von denen die meisten muslimisch sind – machen rund 37 Prozent der Stadtbevölkerung aus.
Der Ostteil: Im Sechstagekrieg 1967 eroberte Israel Ostjerusalem, das bis dahin von Jordanien besetzt war.
Die Annektion: 1980 annektierte Israel Ostjerusalem. Die internationale Staatengemeinschaft erkannte den Schritt nicht an.
Die Bewohner: Mit der Annektion wurden die Bewohner des Ostteils nicht zu israelischen Staatsbürgern. Sie unterscheiden sich damit von den palästinensischen Israelis. Die meisten Araber in Ostjerusalem haben nur Aufenthaltsrecht in der Stadt. Wenige bewerben sich um die israelische Staatsbürgerschaft. (hag)
„Die Teilnahme an der Wahl wird dem israelischen Establishment dabei helfen, sein ‚Groß-Jerusalem‘-Projekt voranzutreiben“, warnte PLO-Generalsekretär Saeb Erekat. Dazu gehöre ein „kolonialistischer Siedlungsplan“ und „Operationen zur ethnischen Säuberung“. Der soziale und politische Druck auf Wähler wie auf Kandidaten ist groß.
Trotz zahlreicher Drohungen will sich Kandidat Dabasch nicht einschüchtern lassen. „Wir Palästinenser in Jerusalem haben keinen Vater und keine Mutter“, sagt er, deshalb müssten sie sich endlich selbst helfen. Das „jüdische“ Rathaus, sagt er, kümmere sich fast ausschließlich um den Westen der Stadt, und die PA fühle sich nicht verantwortlich.
„Wir brauchen Baugenehmigungen, neue Straßen, eine regelmäßige Müllabfuhr, und wir müssen in die Bildung unserer Kinder investieren.“ Die hohe Arbeitslosigkeit im Osten der Stadt hinterlässt Spuren. Vier von fünf Kindern sind arm.
Mit dabei sein will Dabasch, der schon 1995 die israelische Staatsbürgerschaft angenommen hat, wenn große Entscheidungen getroffen werden für die Zukunft der Stadt und ihrer Bewohner. Der studierte Bauingenieur spricht fließend Hebräisch und scheut die Kooperation mit den Juden so wenig, dass er sich kurzfristig sogar dem konservativen Likud anschloss, die Partei aber aus strategischen Gründen sehr schnell wieder verließ.
Dabaschs aktuelle Kampagne richtet sich gegen den Plan des Rathauses, dichtbesiedelte Wohngebiete aus dem Stadtgebiet auszugrenzen. Das Dorf Kufr Akab gehört dazu und das Flüchtlingslager Schuafat. Beide liegen hinter der Trennmauer zwischen Israel und den Palästinensergebieten, beide gehören aber formal zum Einzugsgebiet Jerusalems. Diese Gebiete abzuschneiden würde hunderte Familien voneinander trennen. Besonders hier hofft Dabasch auf eine hohe Wahlbeteiligung.
Ideal würde die Wahl für Dabasch laufen, wenn 70.000 der 180.000 wahlberechtigten Palästinenser ihre Stimme für seine Partei abgäben. Realistischer seien 10.000 bis 20.000, räumt er ein, und auch die würden für ein bis drei Sitze im Stadtrat reichen, je nach Wahlbeteiligung, die vor fünf Jahren bei knapp unter 40 Prozent lag in der gesamten Stadt lag.
Bei den großen Themen hält sich Dabasch zurück, bezieht keine Position zur Besatzung oder zu den Siedlern und auch „der Umzug der US-Botschaft nach Jerusalem spielt keine Rolle für meine Kandidatur“. Er hege keinerlei Ambitionen, Chef der Palästinenser zu werden, sagt Dabasch. Er wolle die Lage vor Ort zu verbessern. „Ich sage niemandem, dass er die Al-Aksa-Moschee aufgeben, zum Judentum konvertieren oder die nationalen palästinensischen Ziele aufgeben soll, aber wir brauchen unseren Platz im Rathaus.“
Palästinenser müssen Lebensmittelpunkt nachweisen
Mit deutlich umfangreicherer Agenda war Aziz Abu Sarah angetreten, als er im September seine Kandidatur kundtat. Der 38-jährige Reiseagent stand zwar wie Dabasch für eine gerechtere Verteilung der öffentlichen Ressourcen, „wir zahlen Abgaben wie alle, nur bekommen wir nichts dafür“.
Gleichzeitig betrachtete er seine Kandidatur aber als Teil des nationalen Kampfes. Abu Sarah zielte hoch. Nicht weniger als das Amt des Bürgermeisters sollte es sei. Dann zogen ihm die Behörden einen Strich durch die Rechnung. Abu Sarah ist kein Staatsbürger und könne deshalb nicht Bürgermeister werden. Außerdem verbrachte er in den vergangenen Jahren immer wieder mehrere Monate im Ausland, weshalb ihm der Entzug seines Status als Bürger Jerusalems droht.
Seit 1995 verpflichtet das israelische Innenministerium die Palästinenser in Ostjerusalem nachzuweisen, dass die Stadt ihr Lebenszentrum ist. Wer oft ins Ausland reist, setzt sich der Willkür der Behörden aus. „Es war klar, dass ich keine Chance hatte, meine Kandidatur fortzusetzen“, erklärte Abu Sarah, als er sich aus dem Wahlkampf verabschiedete.
Seine Mitstreiter auf der Liste „Al Quds Lana“ („Unser Jerusalem“) schlossen sich ihm an, auch infolge der Warnungen von Palästinensern, die telefonisch oder über die sozialen Netzwerke damit drohten, den Kandidaten und ihren Familien etwas anzutun.
Abu Sarah ist nicht der erste Palästinenser, der seine Kandidatur zurückzog. Schon im vergangenen Jahr kündigte Ijad Bibouh seine Teilnahme an der Wahl an, zog sich dann aber überraschend „aufgrund familiärer Gründe“ aus dem Rennen um einen Sitz im Stadtrat zurück.
Auch Dabasch musste seine Liste immer wieder mit neuen Kandidaten aufrüsten, wenn Mitstreiter aus Angst den Warnungen nachgaben. „Sie drohen uns häufig damit, unsere Autos ins Brand zu stecken“, berichtet Dabasch und fügt leichtherzig hinzu, dass sein Auto ohnehin kaum noch etwas wert sei. Allerdings verändere er von Zeit zu Zeit seine Fahrtroute, um eventuelle Angreifer in die Irre zu führen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Netzgebühren für Unternehmen
Habeck will Stromkosten senken