WM-Kolumne Ordem e Progresso: Freie Fahrt für Multitasking
Das Metroliniennetz hat sich eigenwillig über Rio gelegt. Inmitten eines Zwischenraumes liegt der Flughafen. Der Weg ist frei – dank der WM.
E ine unglückliche Kollision zwischen Spiel- und Flugplan, denke ich zuerst. Das letzte Gruppenspiel der Brasilianer hätte ich mir gern irgendwo in São Paulo inmitten einer dieser gelb-grünen Farbinseln angeschaut, die sich rund um die Fernsehbildschirme in der Stadt bilden, wenn die Seleção spielt. Aber ich muss an diesem frühen Abend noch zurück nach Rio de Janeiro. Und die Zeit ist knapp.
Zu knapp eigentlich, um sich in dieser Stadt mit 12 Millionen Einwohnern schnell genug durch den Feierabendverkehr zu schlagen. Das Metroliniennetz hat sich sehr eigenwillig über diese Stadt gelegt. Inmitten eines Zwischenraumes befindet sich der angestrebte Flughafen. Von der Untergrundbahn aus hilft also nur ein Taxi durch den Feierabendverkehr.
Als ich die Treppen hochsteige, wird mir plötzlich klar, dass das Brasilienspiel meine Rettung ist. Die Straßen der Metropole sind leer gefegt. Freie Fahrt für vermeintliche Falschplaner und Fußballverächter! Aber gibt es diese Spezies überhaupt in Brasilien? Im Land des Fußballs, wie sie hierzulande immer wieder gern hervorheben, als ob die Leidenschaft für das Spiel in die DNA seiner Einwohner eingeschrieben wäre.
Wo Desinteresse im Grunde nur als eine Art Gendefekt zu erklären ist. Während der zweiten Vorrundenpartie Brasiliens gegen Mexiko habe ich tatsächlich ein paar Brasilianer an der Copacabana gesehen, welche die Begegnung nicht verfolgt haben. Komische Typen! Zumindest keine ganz hoffnungslosen Fälle. Sie haben immerhin Strandfußball gespielt.
Den Fahrern, die sich am Taxistand in São Paulo um den Fernseher scharen, käme so etwas während eines Spiels der Seleção gewiss nicht in den Sinn. Es ist mir deshalb auch etwas unangenehm, mit meinem Wunsch herauszurücken. Aber es muss ja raus: Zum Flughafen, bitte! Ich bin auf eine unwirsche abschlägige Antwort vorbereitet. Mein schlechtes Gewissen hätte ich mir jedoch sparen können.
Mein Taxifahrer ist bestens auf Kundschaft vorbereitet und hat einen Fernseher in Taschenbuchgröße im Wagen installiert. Ich merke schnell, er macht das nicht zum ersten Mal: Fernsehen, auf die Straße achten und nebenbei den Fahrgast mit einer anschaulichen Nacherzählung des bisherigen Spielgeschehens auf den neuesten Stand zu bringen. Später, als ich mir die Tore von Neymar in einer Zusammenfassung anschaue, kommen sie mir schon sehr bekannt vor.
Ohne geringste Abweichungen hält mein Multitasking-Experte Kurs auf der mehrspurigen Straße. Wobei das wegen der fehlenden Verkehrsteilnehmer gar nicht nötig wäre. Das ein oder andere Auto überholen wir aber doch noch. Und eines kommt uns auch gefährlich schlingernd nahe. Auch dessen Fahrer blickt auf seinen Fernseher an Bord. Anfänger, denke ich. Als mein Flugzeug später in den Himmel über São Paulo steigt, bin ich allerdings doch recht beruhigt zu wissen, dass die Partie inzwischen abgepfiffen ist.
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