WM-Kandidatenturnier im Schach: In die Köpfe der Großmeister sehen
In London ermittelt die Schachelite, wer Weltmeister Anand herausfordern darf. Mit Tablet-Computern soll Schach dabei zum populären Zuschauersport werden.
Optimismus kann durchaus hilfreich sein, wenn man in noch unerreichte Sphären vordringen will. Im Falle des Kandidaten-Finales der besten Schachspieler in London, bei dem der Herausforderer des indischen Weltmeisters Viswanathan Anand gesucht wird, muss aber wieder einmal eher von Zweckoptimismus gesprochen werden.
Zwar verfolgen Millionen Menschen weltweit fasziniert den Siegeslauf des Weltranglistenersten Magnus Carlsen, aber der Optimismus, den die Organisatoren des aufregenden Turniers zur Schau tragen, dürfte übertrieben sein. Auch diesmal wird der Denksport nicht viel populärer werden. Außer in Norwegen natürlich: Carlsens Heimatland würde bei einem Turniererfolg dem WM-Match im November gegen Anand entgegenfiebern.
Andrew Paulson vom neuen Vermarkter Agon will versuchen, das Image des Schachs zu wandeln. „Bisher war es ein Spiel für zwei Leute. Wir wollen erreichen, dass es zur Unterhaltung für alle wird, zum Zuschauersport“, verkündet der Brite in einer BBC-Talkshow und verweist auf eine eigene Untersuchung, laut der weltweit „70 Prozent schon mal Schach gespielt haben“. Nun sei es an der Zeit, das königliche Spiel besser zu präsentieren und attraktiver für Sponsoren zu machen.
Im Londoner Institute of Engineering and Technology sitzen die Zuschauer im abgedunkelten Raum rund um die acht Großmeister, die sich an vier beleuchteten Brettern duellieren. Ein neues System namens „ChessCasting“ soll dem Publikum erklären, was sich beim Kampf um die 510.000 Euro Preisgeld in den Köpfen der Asse abspielt. „Mit dem Tablet können die Leute tiefer in die Partien eintauchen und verstehen, was passiert – und das mit den Augen eines Großmeisters“, sagt Paulson angesichts von Kommentatoren wie Ex-Vizeweltmeister Nigel Short.
Intensiveres Erlebnis
Erläuterungen von Experten über Kopfhörer sind nicht neu. Nun können die Schachfans aber zudem noch dank Videoaufnahmen die Gesichter der Akteure näher heranzoomen, Züge prognostizieren oder ihre Meinung mit anderen Nutzern weltweit teilen. „Mit Chess Casting ist das Erlebnis in der Halle viel intensiver“, bestätigt ein libanesischer Investmentbanker. Ein amerikanischer Software-Entwickler träumt bereits davon, dass er dank „Chess Casting“ eigene Partien bald auf Facebook posten kann, wenn er einen Freund „auf grausame Art am Brett schlachtet“.
Das eingesetzte Tablet soll auch in naher Zukunft den Puls der Spieler und ihr Herzklopfen übermitteln. Bei Carlsen, der gewöhnlich mit großer Lässigkeit auftritt, wird man wohl kaum sonderlich große Schwankungen feststellen können. Nach 10 der 14 Runden führt der Weltranglistenerste mit 7,0 Punkten vor dem Armenier Lewon Aronjan (6,5) und Wladimir Kramnik (6,0).
Der Ausnahmekönner Carlsen, der bereits mit 13 Jahren Großmeister wurde, begleitete Paulson in die BBC-Sendung – und wirkte im Sitz halb liegend ähnlich gelangweilt wie am Brett. Moderator Ros Atkins freute sich, dass er in einer während des Gesprächs geführten Partie nach dem achten Zug den gegnerischen König mit seinem Läufer direkt bedrohen und einmal „Schach“ sagen konnte. „Ich habe wohl nie mehr die Chance dazu!“
Die dilettantische Darbietung des Moderators, der von einer „Sizilianischen Drachenverteidigung“ fabulierte, konterkarierte unfreiwillig die Ausführungen von Agon-Chef Paulson: Chess Casting mag ambitionierte Schachcracks begeistern, aber vereinslose Gelegenheitsspieler wie Atkins wird das System kaum weiterhelfen, um das Spiel besser nachvollziehen zu können.
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