Vorwurf sexueller Übergriffe: Opferhelfer angeklagt
Der Ex-Leiter des Weißen Rings in Lübeck steht vor Gericht, weil er sich vor einer Frau entblößt haben soll, die Schutz suchte.
Silvia N. spricht über das, was auf diesen Anruf folgte, im Amtsgericht Lübeck mit klarer Stimme, ohne Zögern und ohne Dramatisierung. Anfang April 2016 habe sie Detlef H. das erste Mal gegenübergesessen und ihm ihre Geschichte erzählt. Heute sitzt H. auf der Anklagebank.
Er habe zugehört und ihr ein Darlehen und eine Wohnung versprochen, erinnert sich die Zeugin. Der pensionierte Polizist habe viele Kontakte, die er für sie spielen gelassen habe. Sie hätten das Gespräch später in einem Café fortgesetzt, wo es Kuchen und Eis für alle gegeben habe.
Hier habe er auch von sich erzählt, ihr Komplimente gemacht. „Freundlich und charmant“ sei er gewesen, sagt N. Tatsächlich habe er ihr auch eine Wohnung vermittelt. Dann habe Detlef H. sie allein treffen wollen, „damit wir in Ruhe sprechen können“.
Bei diesem Treffen nur wenige Tage später in seinem Büro, erzählt sie, habe er sein Verhalten geändert. Warum sie ihr Baby nicht abgetrieben habe, habe er sie gefragt. Sie solle es zur Adoption freigeben. „Das empfand ich als sehr übergriffig.“ Noch so eine Grenzüberschreitung: Er habe ihr angeboten, ihr einen Job zu vermitteln: als Prostituierte.
„Zwei Mal in der Woche Männer glücklich machen – das ist leicht verdientes Geld“, habe er gesagt. Entsetzt habe sie diesen Vorschlag abgelehnt. „Er entblößte sich, kam zu mir und forderte mich auf, ihm meine Brüste und meinen Kitzler zu zeigen. Und ich sollte ihn anfassen.“ Sie habe das Büro aber stattdessen fluchtartig verlassen, sagt N.
Am Mittwoch begann der Prozess gegen den 74-jährigen ehemaligen Bürochef des Weißen Rings Lübeck. 29 Frauen hatten ihm unabhängig voneinander sexuelle Übergriffe vorgeworfen, aber viele davon sind verjährt, andere wurden vom Landgericht nicht angenommen. Ein einziger Fall ist übrig geblieben, in dem der Vorwurf „nur“ auf Exhibitionismus lautet.
Der Spiegel, der die Fälle gemeinsam mit den Lübecker Nachrichten aufgedeckt hat, kritisiert das Vorgehen des Landgerichts: Es sende ein falsches Signal an Missbrauchsopfer.
In dem Fall gehe es um mehr als um diesen Tatvorwurf, sagte auch die vorsitzende Richterin Andrea Schulz gegenüber der taz. „Der Hintergrund ist besonders, und das öffentliche Interesse sehr groß.“ Fernsehteams gehen ein und aus, und vor dem mit nur zwanzig Plätzen viel zu kleinen Gerichtssaal wartet eine Menschentraube mehrere Stunden, um vielleicht doch noch eingelassen zu werden.
Die Zuschauer diskutieren den Fall kontrovers. Eine ehemalige Klientin des Angeklagten, die nicht namentlich genannt werden möchte, sieht in dem Verfahren eine Verleumdung: „Detlef H. hat in tausend Fällen sehr gut gearbeitet.“
Der Angeklagte versuchte in seiner Aussage alles, um die Glaubwürdigkeit von Silvia N. zweifelhaft erscheinen zu lassen: Sie sei verdächtig oft umgezogen, habe Mietschulden gehabt und sehr dringend Geld gebraucht. Er dreht ihre Aussage um: Sie habe ihn gefragt, wie sie Männer kennen lernen und für einen Eskort-Service arbeiten könne.
Konsequenzen für die Opferhilfe
„Sie hätte nichts davon gehabt, sich das auszudenken“, sagt hingegen Katharina Wulf, Geschäftsführerin des Schleswig-Holsteinischen Landesverbandes Frauenberatung, die den Prozess beobachtet. „Sie wirkte auf mich authentisch.“
Detlef H. sei in Lübeck ein „bunter Hund, bekannt für sein sexualisiertes Verhalten“. Sie verweist auf die Anzeige einer Polizistin, der er ins Dekolleté gegriffen haben soll. Schon die Situationen, die er selbst bestätigte, zeugten von „Grenzüberschreitungen und einer Dynamik von Machtmissbrauch“. Vielleicht sei der Fall nur die Spitze eines Eisbergs: „Was wollte er in Hamburg mit ihr machen? Steht hinter diesem Eskort-Service vielleicht ein Netzwerk?“
Für die Opferhilfe habe der Skandal Konsequenzen: „Es muss Schutzmechanismen geben, auch im ehrenamtlichen Bereich.“ Wenn dieser Fall dazu beitrage, dass der Weiße Ring sich mehr professionalisiere, könne das der Organisation am Ende nützen.
*Name geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!