Vormarsch der Online-Supermärkte: Schöne neue Shoppingwelt
Noch ist ihr Marktanteil klein, doch Online-Supermärkte werden sich durchsetzen. Für die Dörfer muss das keine schlechte Nachricht sein.
M üssen wir um unsere guten alten Supermärkte trauern? Oder wäre es der Anfang von etwas Neuem, Gutem, Besseren und Schöneren im Digitalen? Allmählich verlagert sich nämlich auch der Alltags- und Wocheneinkauf ins Netz. Das Online-Segment „Lebensmittel inklusive Getränke, Tabak- und Drogeriewaren“ erlebt irre Zuwächse. Ja, es dauert noch. Aber absehbar wird er, der Tag, wo du echt nicht mehr schnell noch nach Aldi fahren kannst. Weil: Hat schon zu. Und zwar für immer.
In Großbritannien ist der Trend schon weit fortgeschritten. Corona hat ihm aber auch in Frankreich und Deutschland einen Schub gegeben. Und während die Machtverhältnisse im stationären Einzelhandel und Lebensmitteldiscount stabil wirken, balgen sich hier neben den etablierten Größen wie Rewe und Edeka – ja doch, die arbeiten selbst mit daran, den Filialsupermarkt abzuschaffen – auch neue Unternehmen ums Online-Krümelchen von mittlerweile 3,98 Milliarden Euro Umsatz. Denn ihm ist prophezeit, dass es dank ökonomischer Magie irgendwann fast die ganze Brot-Butter-Bier-und-Klopapier-Torte von 260 Milliarden sein wird.
Einkaufen geht dann so: Schöne Werbebilder von Auberginen, Pilzen und Joghurt anschauen. Häkchen setzen, Gebindegröße und Stückzahl wählen. Zur digitalen Kasse gehen. Liefertermin und Zahlung bestätigen. Fertig. Allerdings oft nur, wenn man im richtigen Postleitzahlengebiet wohnt und Zugriff auf die entsprechenden Zahlungsmittel hat: ohne Konto kein Online-Shopping. Irgendwo geht dann in einer Halle in einem Industriegelände, in Garching, in Braunschweig-West die Bestellung ein, oder eben jetzt hier bei My Enso, die im Bremer Güterverkehrszentrum liegt und mindestens an diesem sonnigen Junitag ihren kompletten Strom vom Dach erntet.
Ein Arbeiter – Warnweste, Helm, Sicherheitsschuhe sind Pflicht – übermittelt der Spezialsoftware die Einkaufsliste und tritt an die Packstation. Die besteht aus einem Stahlregal mit geschrägten Gefachen, direkt an einer der türgroßen Öffnungen, die hin zu dem mit einem Metallgitter abgetrennten Bereich führen. In dem, tatsächlich wie in einem Supermarkt, nur völlig werbefrei, ohne Preisschildchen und komplett menschenleer, eine Landschaft aus Regalen aufgebaut ist – das „Warehouse“, so heißt das echt. Und jetzt geht’s los.
Ballett der Roboter
Leise sirrend sausen 20 Zentimeter hohe superelliptische Scheiben – ihr Grundriss ist so ein Mix aus Oval und Rechteck – durch die Gänge. Jeder der aktivierten Picking-Robots – an den Seiten leuchten sie bläulich – fährt unter eins der Metallregale. Und wie in einem irren Ballett gleiten diese nun, über QR-Codes am Boden in der Bahn gehalten, mit den mannshohen Gestellen auf ihrer Tragfläche, scharf aneinander vorbei – alle auf dem Weg zu der richtigen Gitteröffnung. Dort bieten sie, einer nach dem anderen, den Inhalt der Regale dar: Online-Supermarkt heißt wirklich, die Ware kommt zu dem Menschen.
Auf dem Monitor an der Packstation erscheint nun eine Übersicht der Gefache und gelb hinterlegt das, in dem der angeforderte Artikel liegt. Ein Foto von ihm erleichtert die Kontrolle. Der Arbeiter nimmt die gewünschte Anzahl heraus, scannt den Strichcode, legt das Produkt in die Versandbox. Und ab geht die Post.
Zu den Neuen zählt Knuspr, ein Ableger der Firma Rohlík.cz aus Prag, die zu drei Vierteln dem strikt neoliberalen Unternehmer Tomáš Čupr gehört: Seit 2021 in Deutschland aktiv, hat es bereits Jeff Bezos’ Amazon Fresh von Platz zwei des jährlichen Branchentests des Computermagazins Chip verdrängt. Noch liegt Rewe in Führung, aber da will Čupr hin. Er tritt mit Regionalitäts- und Frischeversprechen an und gehört zu denen, die mit Nachhaltigkeitsthemen auf sich aufmerksam zu machen versuchen, ähnlich wie das norwegische Online-only-Unternehmen Oda, seit Januar in Deutschland aktiv, oder eben, noch stärker, die Bremer Genossenschaft My Enso. „Deine Wünsche werden wahr“, verspricht sie ihren Kund*innen. „Ich möchte mich komplett nach dir richten und dein besserer Online-Supermarkt werden.“
Menschliches Zusammensein
In den USA hat man den Trend etwas schwülstig als „retail apocalypse“ bezeichnet, na ja. Aber tu das mal bloß nicht gleich als lächerliche Übertreibung ab: Außer für ein paar Snobs ist der Supermarkt, wie Annie Ernaux mal geschrieben hat, ein Ort, „dessen Nutzung zum Leben gehört, ohne dass man ermessen würde, welche Bedeutung er für unsere Beziehung zu anderen Menschen und die Art und Weise hat, wie wir mit unseren Zeitgenossen im 21. Jahrhundert Gesellschaft bilden“.
Genau besehen, so die Literaturnobelpreisträgerin, gebe es gegenwärtig „keinen anderen öffentlichen oder privaten Raum, in dem sich so viele unterschiedliche Menschen bewegen und begegnen“. So heißt es in „Regarde les lumières mon amour“ (2013) – das leider nicht übersetzt ist – in etwa: „Schau dir die Lichter an, Schätzchen“. Dabei stimmt auch in Deutschland der Befund, dass, wer noch nie einen Supermarkt betreten hat, die soziale Realität des Landes nicht kennt. Können wir dem Verschwinden dieses „grand rendez-vous humain“, dieses großen menschlichen Zusammenseins einfach zuschauen, es sogar wollen?
Oda will es. „Mach Schluss mit Supermarkt“ lautet, gar nicht so unaggressiv, der Claim der Norweger, der seit Jahresbeginn auch in Deutschland Fuß fasst. Vom ersten Logistikzentrum in Ragow, das zwischen Rangsdorf und Königs Wusterhausen liegt, beliefert man Berlin, plus ein paar Landkreise Brandenburgs und mittlerweile auch Potsdam. Das zweite Verteilzentrum ist im Mai bei Braunschweig in Betrieb genommen worden: Bis Göttingen im Süden, bis Hannover im Westen reicht der Vertrieb. Die Werbekampagne für den Newcomer inszeniert das Bild der Einkaufshölle, die herkömmliche Supermärkte eben auch sind – gerade wegen ihres Charakters als sozialer Orte.
Wobei: Ist ein Ort schon deshalb sozial, weil dort Menschen aufeinanderstoßen? Die Werber jedenfalls spielen gezielt mit negativen Emotionen, die durch solche Begegnungen hervorgerufen werden, vom „Schreikind in Gang acht“, von der „Endlosschlange an der Kasse“, und beschwören den Hass auf „langsame Kleingeldzähler:innen“, immerhin bleibt der Bettler vor der Tür unerwähnt.
Der infernalische Andere
Drei Stunden pro Woche im Schnitt verbrächten die meisten im Lande in diesem Albtraum, so hat es Oda-Deutschland-Manager Malte Nousch vorgerechnet. Die würden die Menschen durchs Online-Shoppen sparen, bei dem sie nicht auf die infernalischen Anderen treffen. „Wir schenken ihnen mehr Zeit für die schönen Dinge im Leben“, behauptet Nousch. Mit den schönen Dingen sei ausdrücklich nicht nur das Zusammensein mit Familie und Freunden gemeint, übersetzt Oda-PR-Frau Timea Trüb den Spruch, „sondern auch das ganze Thema Nachbarschaft“.
Deshalb also hat man in Berlin ein paar Kunden zusätzlich eine Packung Gratis-Schokolade in die Lieferung gepackt mit der Aufforderung, sie weiterzugeben an die Leute von nebenan, als kleine Aufmerksamkeit. Geile Werbung. Den Begriff „schenken“ sollte man in der Businesswelt aber ohnehin nie zu wörtlich nehmen: Umsonst ist hier nichts. Während Personal-, Immobilien- und Betriebskosten im Online-Segment minimiert sind und Ladendiebstahl ausbleibt, liegen die End-Preise so gut wie nie unter denen des stationären Einzelhandels.
Aber noch mal: Lieben Sie Ihren Lidl? Schlendern Sie entspannt und versonnen durch den Edeka? Schön für Sie. Wer allerdings im Hinblick auf Online-Supermärkte das Lied von der Verödung der Städte anstimmt, liegt falsch: Es sind eher die Einkaufszentren, die sich leeren, die Malls, die einst das Publikum aus dem Herzen der Stadt gesogen hatten. Nichts also spricht dafür, den stationären Supermarkt zu überhöhen: Er ist kein Paradies, noch nicht einmal das Einkaufsparadies, als das er in den 1960er Jahren in die Welt gedrängt war.
Totale Ökonomisierung
Seine bauliche Außenhülle gehorcht Prinzipien der totalen Ökonomisierung. Die Gesellschaftsordnung bildet sich in seiner inneren Überwachungsarchitektur ab. Die Auswahl und Disposition der Güter ist manipulativ, ihre Fülle simuliert eine Vielfalt von Entscheidungsmöglichkeiten. Dabei hat der freie Wille hier ausgespielt: Genau besehen begeben sich die Kund*innen ja in einen bis ins Detail strukturierten Durchlauf.
In seiner Gerichtetheit gleicht ihr Weg der maschinellen Fertigung eines Industrieguts in einer Fabrik. Sie unterwerfen sich. Und es scheint, als empfinde man, einmal in diesen Prozess eingespeist, alles, was ihn hemmt, als Ärgernis. Supermärkte schaffen Begegnungen, die sich anfühlen wie Unfälle. Sie sind weder gewalt- noch herrschaftsfrei: „Wenn ich aus dem Supermarkt kam, hatte mich oft ein Gefühl der Ohnmacht und der Ungerechtigkeit erfasst“, analysiert Ernaux das Shopping-Erlebnis. Und hatte nicht seinerzeit der Supermarkt den familiären Kaufmannsladen verdrängt?
Den gibt es ja fast nur noch, deshalb auch ungegendert, als nostalgisches Spielzeug. Und geradezu paradoxerweise scheint es möglich, das Prinzip Dorfladen mithilfe des immer so ein bisschen autistisch wirkenden Online-Handels wiederzubeleben.
Tante Enso aus Bremen
Das haben die Gründer der Bremer Genossenschaft My Enso, Norbert Hegmann und Thorsten Bausch, hingekriegt. Wenn auch eher aus Versehen. Das Hybrid-Modell aus bundesweitem Online-Supermarkt und sogenannten Tante-Enso-Läden sei so gar nicht geplant gewesen, sagt Hegmann. Jetzt wirkt es wie ein raffiniertes Konzept: In Orten wie Blender, Vögelsen, Schnega und 17 weiteren Flecken hat man schon Niederlassungen gegründet, also vor allem in der norddeutschen Tiefebene. Aber bald schon werden Geschäfte in Poppenlauer, Axstedt und Ummen folgen, in Elfershausen und Schwarzatal. Das sind durchweg Gemeinden, in denen es nichts mehr gibt, keinen Bäcker, keine Verkaufsstelle – und im Umkreis von fünf Kilometern keinen Supermarkt.
„Orte mit verletzter Seele“, nennt Bausch sie, und das klingt vielleicht pathetisch, trifft aber den nüchternen Alltag dort. „Die Leute in den Städten brauchen einen Online-Supermarkt, der primär alternative Produkte anbietet“, erklärt Hegmann, der aus der Marktforschung kommt, „Produkte neben Nestlé und Mondelez. Manufakturprodukte.“ Auf dem Land dagegen fehle es an Grundversorgung – und an Räumen, in denen sich Gemeinschaft erfahren lässt: „Die haben uns ganz klar gesagt: Wir wollen den Laden als Begegnungsstätte zurück.“
Nun sind die gescheiterten Wiederbelebungsversuche von Dorfläden Legion. Die meisten, die auf dem Land leben, arbeiten eben doch in der Stadt – und fahren dann auf dem Heimweg noch schnell bei Hit oder Norma vor, die mit dem großen Kundenparkplatz, und erledigen den Wocheneinkauf. Weil’s praktisch ist. Weil die Auswahl groß ist. Pech für den Dorfladen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Hegmann und Bausch können da gegenhalten, weil sie ein konsequentes Hybridmodell geschaffen haben: So halten sie im kleinen Tante-Enso-Laden mit seinen vielleicht 200 Quadratmetern dank Online-Shop im Grunde ein Sortiment von 20.000 Artikeln vor – natürlich nicht physisch, sondern per Click-&-Collect-Methode. Dann haben sie Kernöffnungszeiten mit übertariflich bezahltem Personal, mit dem sich auch mal klönen lässt, beim Einkauf – sind aber in der übrigen Zeit per Kundenkarte als Automatenladen zugänglich. Und schließlich eröffnet nur da eine Niederlassung, wo sich 300 Leute finden, die mindestens einen Geno-Anteil für 100 Euro zeichnen. „Wenn das geschafft ist, dann kommen wir garantiert“, sagt Hegmann.
Mit einem Stamm von 300 treuen Kund*innen zu starten, das minimiert das unternehmerische Risiko. Es hilft aber auch, die Unabhängigkeit von Investoren zu wahren, und es schützt vor der Konkurrenz auf Beutezug: Das hochgejubelte Berliner „Gorillas“-Start-up, im Grunde auch ein Online-Supermarkt, war im vergangenen Jahr vom türkischen Liefer-Riesen Getir geschluckt worden, einfach so. Aber schon vorher hatten sich die unterbezahlten Lebensmittel-Radkuriere eben auch für Hedgefonds wie die Dragoneer Investment Group aus San Francisco abgestrampelt oder, anderes Beispiel, für die Kapitalbeteiligungsgesellschaft mit dem schönen Namen Da Vinci Capital. Die sitzt in Moskau.
„Unser Traum ist ja eigentlich“, sagt dagegen Hegmann, „dass wir es schaffen, gar keine Investoren mehr zu brauchen“, abgesehen von den Genoss*innen eben. Bei 25.000 Mitgliedern sei man jetzt. Mit einer Million Mitgliedern, so seine Rechnung, „hätten wir genügend Kraft, dass wir nicht betteln gehen müssten“.
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