Vor der Parlamentswahl in Ungarn: Notizen aus Viktor Orbáns Provinz
Die rechte Fidesz liegt in den Umfragen weit vorn. Über das Land, seine Bewohner und die Landschaftspflege durch die Regierenden.
Wenige Tage vor den Wahlen an diesem Sonntag zeigen Ungarns Bürgermeister landauf, landab großen Eifer beim Einweihen von Gebäuden und Straßen. Die Regierungspartei Fidesz, die auch das Gros der Gemeindechefs stellt, will damit unterstreichen, dass nur sie imstande ist, Ungarn weiter voranzubringen. Und tatsächlich schaute es ja ziemlich gut aus: Die Wirtschaft brummt. Die Arbeitslosenquote ist niedrig. Das heftet sich Viktor Orbán ans Revers.
Der Regierungschef beansprucht die Vertretung des „Ungarntums“ und der Nation. Er setzt auf Almosenverteilung und Feindbilder und nimmt das Wort „Wahlkampf „wörtlich: Seine Rhetorik zeigt Oppositionelle als vaterlandslose Gesellen, die das Land mit Migranten überschwemmen wollen. Hinter diesem üblen Plan stehe der 87-Jährige ungarischstämmige Milliardär und Philanthrop George Soros. Ein landesweit verbreitetes Plakat zeigt eine Fotomontage, auf der die Vorsitzenden der vier größten Oppositionsparteien zu sehen sind, wie sie von dem jüdischstämmigen Soros umarmt werden. „Sie wollen unseren Zaun kaputt machen!“ steht darunter. Und für alle, die die Botschaft noch immer nicht verstanden haben, dass es nämlich um den gegen die Flüchtlinge errichteten Grenzzaun geht, sind die Protagonisten mit Bolzenschneidern ausgerüstet.
Nach mittlerweile acht Jahren an der Regierung hat die rechtsnationalistische Bürgerunion Fidesz unter Viktor Orbán Ungarn fest im Griff. Vor allem auf dem flachen Land gibt es kaum Alternativen zur staatlich gelenkten Propaganda. Dass der nächste Regierungschef auch wieder Viktor Orbán heißen wird, bezweifelt kaum jemand.
Anti-Flüchtlings-Propaganda wirkt
Schon gar nicht zweifeln daran die Menschen, die sich an einem Märzabend im Konferenzsaal des Flandria-Hotels in Budapest zusammengefunden haben. Knapp einhundert Personen, fast alle im Rentenalter, sind der Einladung zu einem Bürgerforum in dem Mittelklassehotel gefolgt. Szilárd Németh, Vizeparteichef der Fidesz, malt in düsteren Farben die Gefahren eines Sieges der Opposition: Das Land würde von Migranten überflutet werden. In den Schulen müssten die ungarischen Kindern neben einer Mehrheit von Ausländerkindern lernen. Es bliebe kein Geld mehr für Arbeitsplätze und Krankenhäuser.
Ein Rentner meldet sich zu Wort. Premier Orbán habe angedroht, er würde nach der Wahl an der Opposition Vergeltung üben. Was müsse man sich darunter vorstellen? Soll die Todesstrafe wiedereingeführt werden, oder wird den „Vaterlandsverrätern“ nur die Staatsbürgerschaft entzogen? Der Mann lässt durchblicken, dass er mit beiden Lösungen einverstanden wäre, und muss beschwichtigt werden. Ein Rauswurf der Opposition aus dem Parlament sei schließlich Strafe genug, sagt Németh.
Pastor Zoltán Papp
Die Rentner, die sich nostalgisch an die Sicherheiten in sozialistischen Zeiten erinnern, sind Orbáns wichtigste Wählerbasis. Kurz vor den Wahlen haben sie noch als „Ostergeschenk“ einmalig umgerechnet 32 Euro bekommen. Dazu gibt es einen außerordentlichen Heizkostenzuschuss, weil der Winter so kalt war.
Tief greifende Korruption
Der typische Fidesz-Wähler, sagt Ákos Hadházy, Abgeordneter der grünen LMP, lebt in der Provinz, ist bildungsfern und konsumiert die weitgehend gleichgeschalteten Medien. Hadházy muss es wissen, denn der Mann saß vor fünf Jahren noch für Fidesz im Stadtrat von Szekszárd, einem Ort mit rund 34.000 Einwohnern. Doch dann wechselte er das politische Lager – nicht ohne zuvor mit einem Aufnahmegerät heimlich Sitzungen bei Fidesz mitzuschneiden, bei denen offen darüber geredet wurde, wo man für private Zwecke Gelder abzocken könne.
Anlass für den Seitenwechsel von Hadházy war ein Skandal um die Neuordnung des Tabakvertriebsmonopols. Das einträgliche Geschäft mit den Rauchwaren ist 2013 fast exklusiv an Fidesz-Parteigänger vergeben worden. Gabriella Nagy von Transparency International in Ungarn spricht in diesem Zusammenhang von „Korruption via Gesetz“. Schlüsselfigur des Tabakcoups war der damalige Bürgermeister von Szekszárd, István Horváth. Er koordinierte die Verteilung. Kritische Medien, von denen es damals noch etliche gab, verliehen ihm den Namen „Mr. 20 Prozent“ weil er durch seine Nähe zur Macht lukrative Staatsaufträge vermitteln konnte, für die er dann eine entsprechende Kommission verlangt haben soll.
István Horváth ist gern zu einem Gespräch bereit. Von Korruptionsskandalen will er nichts wissen. Es gebe die ein oder andere Unregelmäßigkeit, und diese würden dann von den Medien furchtbar aufgebauscht, gerade jetzt, zu Vorwahlzeiten, sagt er. Auch dass die europäische Betrugsbekämpfungsbehörde OLAF in mehreren Fällen gegen Ungarn ermittle, hält er für ein von böswilligen Journalisten verbreitetes Gerücht. Viel lieber will er darüber sprechen, was für großartige Arbeit Fidesz leiste, für die die Partei sicher mit einer satten Mehrheit belohnt werde.
Transparency International spricht hingegen von „systemischer Korruption“ in Ungarn. Im jährlich erhobenen Korruptionsindex ist das Land in den letzten Jahren kontinuierlich abgerutscht und belegt jetzt mit 45 Punkten den vorletzten Platz aller EU-Länder, nur Bulgarien wird noch schlechter bewertet. Gabriella Nagy von Transparency International Ungarn beschreibt ein geschlossenes System, das von der Zentralbank bis zur Staatsanwaltschaft reicht. Die Milliarden Euro an EU-Subventionen, die für die Entwicklung der ehemaligen sozialistischen Staaten fließen, seien in Ungarn vor allem auf die Bankkonten von Günstlingen der Regierung geflossen. Ein großer Teil werde rasch in Fonds verschoben, die nicht mehr als staatlich gelten und der öffentlichen Kontrolle entzogen werden.
Die Herausgabe der entsprechenden Daten musste Transparency International gerichtlich erstreiten. Und da kam heraus: Ein Teil der Gelder war an Familienmitglieder von Zentralbankvorständen gegangen, obwohl diese ausdrücklich von solchen Zahlungen ausgeschlossen sind. Eine Anzeige von Transparency International bei der Staatsanwaltschaft versandete. Dafür dürfte nicht unerheblich gewesen sein, so steht es im jüngsten Bericht der Korruptionsbekämpfer, „dass die Ehefrau des Generalstaatsanwalts bei der Zentralbank Personaldirektorin ist und im Aufsichtsrat von zwei Stiftungen der Zentralbank sitzt“.
Ein Skandal führt direkt in die Familie Viktor Orbáns. Die Ausschreibung für einen Millionenauftrag für die Straßenbeleuchtung in mehreren Städten wurde so zugeschnitten, dass die Firma von Orbáns Schwiegersohn István Tiborcz zum Zuge kam. OLAF hat die EU-Kommission aufgerufen, einen Teil der Gelder zurückzufordern.
Dorfbewohner verhindern Ferien für Flüchtlinge
Das Dorf Öcsény, rund 15 Kilometer südlich von Szekszárd, ist so ein Flecken, wo Orbáns Warnung vor einer Ausländerflut auf fruchtbaren Boden gefallen ist. An Öcsény und seinen 2.300 Einwohnern ist die Entwicklung der letzten Jahrzehnte vorübergegangen. Die von Schlaglöchern übersäten Straßen werden von eingeschossigen Häusern gesäumt, die schon lange keinen neuen Anstrich mehr gesehen haben. Vor der spätbarocken Kirche steht auf dem Denkmal für die Gefallenen der Weltkriege ein steinerner Árpad in nachdenklicher Pose. Árpad gilt als der Fürst, der im 9. Jahrhundert die vereinten Magyarenstämme zur Landnahme nach Zentraleuropa führte – der Gründervater Ungarns.
Als die Flüchtlingsorganisation Migration Aid im vergangenen September für eine Gruppe minderjähriger Asylberechtigter ein paar Tage Erholungsurlaub in Öcsény organisieren wollte, brach dort ein stiller Aufstand los. Dem Pensionsbesitzer, der die jungen Menschen zu beherbergen versprochen hatte, wurden ebenso die Autoreifen zerstochen wie dem Bürgermeister János Fülöp. Der Urlaub wurde abgeblasen, der Bürgermeister trat zurück, wurde aber wenig später wiedergewählt.
Heute liegt Stille über dem Dorf. Die Kassiererin im kleinen Supermarkt beschäftigt sich nicht mit Politik, sagt sie. Ob sie wählen geht, wisse sie noch nicht. Andere Dorfbewohner werden schnell schroff, wenn sie auf Politik angesprochen werden. Selbst der Bürgermeister, der vor einem halben Jahr ein wenig zu viel Publizität genossen hat, will vor den Wahlen nicht mehr mit einem ausländischen Journalisten sprechen. Einzig Pastor Zoltán Papp läuft nicht davon. Er spricht von einer Massenhysterie, die damals durch Propaganda geschürt worden sei. Der Aufstand gegen die Flüchtlingskinder sei aber „mehr Rauch als Feuer“ gewesen. Im Grunde findet er den Grenzzaun und Viktor Orbáns Politik richtig: „Er vertritt im Ausland, was wir denken und wollen.“ Deswegen werde Fidesz wohl auch wieder seine Stimme bekommen.
Von der Provinzstadt Szekszárd sind es 150 Kilometer bis nach Budapest. Das keine halbe Stunde entfernt gelegene AKW Paks ist der größten Arbeitgeber. Weinberge, wo die dalmatinische Kadarka-Rebe einen hervorragende Roten hervorbringt, umschließen die Stadt, deren Ausgrabungen aus der Römerzeit auf eine lange Geschichte hinweisen. Frisch restaurierte Bürgerhäuser aus der k. u. k. Zeit säumen den nach dem Dichter János Garay benannten Hauptplatz.
Dieser und viele weitere Artikel wurden durch finanzielle Unterstützung des Auslandsrecherchefonds ermöglicht.
Im ersten Stock eines Kulturzentrums haben sich am Abend in einem vollgepackten Auditorium die Anhänger der sozialdemokratischen MSZP versammelt. Vor dem Spitzenkandidaten Gergely Karácsony ergreift der lokale Vertreter Tamás Harangozó das Mikrofon. „Diese Stadt“, so beginnt er, „ist weltweit bekannt für Korruption.“ Der lokale Fidesz-Abgeordnete István Horváth habe eine halbe Milliarde an EU-Geldern bekommen, „aber in unseren Schulen müssen die Eltern Geld sammeln, um die Klos zu reparieren“.
Der Schindluder, der mit öffentlichen Geldern getrieben wird, ist so offensichtlich, dass sich alle Oppositionsparteien vor den Wahlen optimistisch geben. „Regierungswechsel jetzt!“, fordert die rechtsextreme Jobbik auf ihren Plakaten. „Wende! Jetzt!“, plakatiert die sozialdemokratische MSZP. Und die grüne LMP kündigt selbstbewusst an: „Wir kommen! Jetzt!“ Orbán seinerseits kopiert den Erfolgsslogan von Donald Trump: „Ungarn zuerst!“
Einem eigentlichen Wahlkampf weicht Orbán aus. Fernsehdiskussionen mit den Herausforderern verweigert er sich mit der Begründung, mit unbedeutenden Parteien gebe er sich nicht ab. Während Orbán in den größtenteils staatlich kontrollierten Medien allgegenwärtig ist, wird den Oppositionsparteien eine einzige fünfminütige Zuschaltung im Staatsfernsehen zugestanden – eine im gesamten Wahlkampf.
Die Opposition gibt sich nicht geschlagen
Orbán will die Zweidrittelmehrheit zurückerobern, die es ihm früher erlaubt hat, die Verfassung umzuschreiben. Sie ist vor drei Jahren durch den Tod eines Abgeordneten und den Oppositionserfolg bei den Nachwahlen verloren gegangen. Das maßgeschneiderte Wahlgesetz bietet gute Voraussetzungen für einen erneuten Triumph.
Allerdings glaubt sich die Opposition im Aufwind, seit es ihr Ende Februar bei Bürgermeisternachwahlen in der südungarischen Fidesz-Hochburg Hódmezővásárhely gelungen ist, mit einem unabhängigen Kandidaten den Regierungsmann deutlich zu schlagen. Von der sozialdemokratischen MSZP über die Ökopartei LMP bis zur rechtsextremen Jobbik konnten sich dort alle Kräfte auf den parteilosen Péter Márki-Zay einigen. Deswegen wird innerhalb der Oppositionsparteien seit Wochen diskutiert, die eigenen Leute zugunsten des jeweils aussichtsreichsten Kandidaten zurückzuziehen, um mehr Wahlkreise erobern zu können. „Ich kann mir vorstellen, dass einige Kandidaten zurücktreten werden“, sagt dazu Ákos Hadházy von der LMP. Auch er selbst sei bereit, im Wahlkreis von Szekszárd dieses Opfer zu bringen. Zeit dazu ist bis zum letzten Moment. Zwar sind die Stimmzettel längst gedruckt, doch müssen die Namen zurückgetretener Kandidaten auch kurzfristig gestrichen werden.
Eine breite Zusammenarbeit der Opposition werde es aber wohl nicht geben, sagt Hadházy. Dafür seien die ideologischen Gräben zu tief. Zudem gebe es schwer überbrückbare persönliche Animositäten zwischen einzelnen Parteichefs. Die LMP etwa tut sich leichter, mit der rechtsradikalen Jobbik zu paktieren, als mit der MSZP, die vielen Menschen trotz ihrer neoliberalen Politik immer noch als Nachfolgerin der kommunistischen Einheitspartei gilt. Jobbik-Chef Gábor Vona wiederum gibt sich seit einiger Zeit betont gemäßigt. Er wirft Orbán vor, seine Parolen kopiert zu haben, und zeigt sich reuig. Jetzt wolle er die Bevölkerung nicht länger aufhetzen und spalten, beteuerte er in Interviews. Manche Mitbewerber halten ihn für glaubwürdig. Allerdings wisse man noch nicht, ob die radikalisierte Basis von Jobbik diesen Schwenk mitvollziehen werde, heißt es.
Die sozialdemokratische MSZP tritt gar nicht mit einem eigenen Spitzenkandidaten an. Das übernimmt Gergely Karácsony, Vorsitzender einer kleinen Partei namens „Dialog für Ungarn“, die sich vom Bündnis mit den Sozialdemokraten einen Einzug ins Parlament in Budapest verspricht. Allein würde Dialog für Ungarn die Fünfprozenthürde schwerlich überwinden können. Die 10 Prozent, die sie als Zweierallianz erreichen müssen, sollten dagegen zu schaffen sein.
Karácsony hat als Chef des Budapester Stadtteils Zugló eine gute Figur gemacht. In der weltoffenen ungarischen Hauptstadt verfangen die dumpfen Parolen von Viktor Orbán weniger. Die Menschen haben Zugang zu differenzierteren Informationen.
Ganz anders sieht es da in Szekszárd aus, wo die lokale Wochenzeitung ihre Redaktion neben dem Fidesz-Hauptquartier aufgeschlagen hat. Wie die Menschen hier denken, demonstriert ein Jobbik-Aktivist, der bei dem sozialdemokratischen Meeting zugegen ist. Der Mann springt auf, noch bevor Spitzenkandidat Gergely Karácsony das Wort ergreifen kann. Dann spielt er islamisch inspirierte Musik ab, weil er gehört haben will, dass Karácsony eine Moschee errichten möchte. Das ist natürlich schon deswegen Unsinn, weil es in Szekszárd kaum Muslime gibt. Aber, so sagt Káracsony, nachdem der Mann aus dem Saal eskortiert worden ist, dieser Zwischenfall zeige, dass Orbáns Propaganda funktioniert.
Mitarbeit: Tibor Rácz
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen