Vor der Parlamentswahl in Italien: Nach den Sternen greifen
Gar nicht mehr komisch: Die italienische Fünf-Sterne-Bewegung gibt sich seriös. Am Sonntag könnten sie dafür die Ernte einfahren.
Schauspieler könnte der junge Mann allemal sein. Das ebenmäßige Gesicht ist leicht gebräunt, die schwarzen Haare kurz getrimmt, die Linie schlank, der graue, eng geschnittene Anzug sitzt ebenso tadellos wie die hellblaue Krawatte. In einer Fernsehserie könnte er den Börsenhai geben oder den smarten Staranwalt. Doch Luigi Di Maio ist Politiker, und mit seinen erst 31 Jahren tritt er für das Movimento 5 Stelle (M5S – 5-Sterne-Bewegung) als Spitzenkandidat bei den Parlamentswahlen an diesem Sonntag an.
„Di Maio presidente“ verkünden die zwei auf der Bühne aufgespannten Transparente, und wenigstens hier im Theater halten die meisten das keineswegs für abwegig, auch wenn das Gros der Medien Italiens das M5S weiter als populistische Laienspielschar darstellt.
Gleich zum Auftakt seiner Rede zeichnet Di Maio das Bild einer Bewegung, die in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, begrüßt die Vertreter der Notarkammer, des Handwerker- und des Bauunternehmerverbandes, der Schiffswerften und der Lehrergewerkschaft, die alle präsent sind. Und auch sein 50 Minuten währender Vortrag ist auf seriös gebürstet. Di Maio denkt gar nicht daran, den Volkstribun zu geben, laut zu werden, die politischen Gegner, egal ob von der bisher in Rom regierenden gemäßigt linken Partito Democratico (PD) unter Matteo Renzi oder von der Berlusconi-Rechten, mit Schmähreden und Schimpfkanonaden zu überziehen.
Die Bewegung kommt an – bei Arbeitnehmern
Routiniert, konzentriert, in freier Rede spult er stattdessen die Programmpunkte des M5S ab – Programmpunkte, die auf der Diagnose fußen, dass Italien ein Land in tiefer Krise ist, dessen traditionelle politische Kräfte vor dieser Herausforderung versagt haben und vor allem aufs eigene Wohl bedacht waren. Ein vom politischen Zugriff aufs Management befreites Gesundheitswesen, eine entschlackte Staatsbürokratie, Schulen, in denen die Lehrer endlich anständige Gehälter beziehen, eine Familienpolitik, die sich vieles beim kinderfreundlichen Frankreich abschauen könne, ökologische Wohnbausanierung, vor allem aber die Reduzierung der drückenden Steuerlast für die Unternehmen und die flächendeckende Einführung eines Grundeinkommens für Arbeitslose: Di Maio lässt kaum ein Politikfeld aus, und immer wieder unterbricht ihn der Beifall.
„Der ist einer von uns, der versteht was von unseren Sorgen“, flüstert ein wohl 60-Jähriger mit graumeliertem Haar seinem Nachbarn zu, und er spielt damit wohl nicht nur darauf an, dass der aus dem Städtchen Pomigliano direkt vor den Toren Neapels stammende Di Maio hier gleichsam ein Heimspiel hat, sondern auch auf die Biografie des Spitzenkandidaten der Fünf Sterne. Jurastudent ohne Abschluss, Webmaster, Servicekraft im Fußballstadion und Kellner: Wie so viele seiner Generation hatte sich Di Maio mit allerlei Jobs durchgeschlagen, ehe er vor fünf Jahren ins Abgeordnetenhaus gewählt und dort gleich zum Vizeparlamentspräsidenten bestellt wurde.
Inhaltlich, das wird in Di Maios Rede klar, haben sich die Akzente beim M5S kaum verschoben gegenüber 2013, als die Bewegung zum ersten Mal bei nationalen Wahlen antrat. Und doch ist die gegenwärtige Kampagne radikal anders als die vor fünf Jahren, die mehr als 160 Fünf-Sterne-Parlamentarier ins Abgeordnetenhaus und den Senat spülte. In Neapel spricht ein blutjunger und doch schon völlig routinierter Politiker vor einem Saal, in dem kaum jemand unter 40 und ein Gutteil der Besucher nahe dem Rentenalter ist. Vor fünf Jahren dagegen war es ein in die Jahre gekommener Komiker, der damals schon 62-jährige Beppe Grillo, der auf seinen Kundgebungen quer durchs Land Tausende, überwiegend junge Menschen in seinen Bann schlug.
Beppe Grillos Wahlkampf ist vergessen
„Tsunami tour“ hatte Grillo damals seine Wahlkampftournee getauft, und es ging nicht hinein in Theatersäle, sondern raus auf die Plätze. Und dort gab es nicht eine klassische Wahlkampfrede, sondern die Wutshow eines entfesselten Rumpelstilzchens, das den Austritt Italiens aus dem Euro predigte, das die „politische Kaste“ zum Teufel wünschte, ihr Korruption und Unfähigkeit vorwarf. Stattdessen wollte Grillo einfache Bürgerinnen und Bürger ins Parlament schicken. Auf den Bühnen standen sie hinter ihm – darunter viele deutlich unter 30, genauso wie der damals 26-jährige Di Maio, fast alle ohne jede politische Erfahrung. Genau besehen hatte das M5S nur ein Gesicht: Grillo selbst, der als Magnet wirkte.
Und der so etwas wie einen Kinderkreuzzug anführte, mit zunächst überraschendem Erfolg: Bei den Wahlen von 2013 kam das M5S auf sensationelle 25,5 Prozent, bei den Jungwählern überschritt es gar die 40-Prozent-Marke. Ein ausgerasteter Clown an der Spitze, ein amorphes Heer von ihm blind ergebenen Anhängern zu seinen Füßen: Dieses Bild wurde damals quer durch Europa gezeichnet, Kommentatoren sprachen vom „gefährlichsten Mann Europas“ , entdeckten gar Parallelen zu Mussolini. Und viele Beobachter gaben sich sicher, dass der Spuk schnell zu Ende sein würde, dass das M5S schnell implodieren werde.
Erst 2009 hatte Grillo die Fünf Sterne gegründet, nachdem er in den Vorjahren mit seinem Blog eine rasant wachsende Leserschar um sich versammelt hatte. Doch als eigentliche Geburtsstunde gilt schon der 8. September 2007: Damals rief der Comedian die Bürger zum Vaffa Day, zum „Leck-mich-am-Arsch-Tag“ gegen die Altparteien. Allein in Bologna kamen Zehntausende, in 50 weiteren italienischen Städten Hunderttausende. Da wohl begriff Grillo, welches Potenzial für eine Bewegung da war.
Totgesagte leben länger
Doch nicht eine klassische Partei mit Orts-, Provinz-, Regionalstrukturen wollte Grillo, sondern eine fluide Bewegung. Bloß in lokalen Meet-ups – reinen Internetplattformen – versammelten sich seine Anhänger, per Internet wählten sie dann 2013 ihre Parlamentskandidaten aus, und die nationale Führung bestand allein aus Beppe Grillo. Der verfügte auch, dass die Fünf Sterne weder rechts noch links seien, dass sie „keine Ideologie, sondern Ideen“ hätten.
Eine rein virtuelle Bewegung, einigermaßen zufällig zusammengewürfelte Parlamentsfraktionen aus lauter Dilettanten – das konnte eigentlich nur schiefgehen, ungefähr so wie bei der Piratenpartei in Deutschland. Doch bei den Fünf Sternen ging es nicht schief. Gewiss, schnell fielen sie mit Negativschlagzeilen auf, mit ersten Ausschlüssen und Austritten aus den Fraktionen. Und dann war da noch Matteo Renzi. Der hatte Ende 2013 die Führung der gemäßigten Partito Democratico erobert, wohl auch weil er als „Grillo light“ daherkam, und im Februar 2014 war er Ministerpräsident geworden, mit dem gleichen Gestus radikaler Umgestaltung, der das M5S auszeichnete. Bei den Europawahlen im Mai 2014 räumte Renzis PD 41 Prozent ab, die Fünf Sterne blieben bei 21 Prozent hängen, ihr Abstieg schien eingesetzt zu haben.
Warum es nicht zum Absturz kam, lässt sich in Scampia verstehen, einem Randviertel von Neapel, in dem die Armen hausen, in dem die Camorra den Ton angibt, in dem Di Maio nur wenige Stunden nach seinem Auftritt vor dem gutbürgerlichen Publikum im zentral gelegenen Theater spricht. Der Treffpunkt ist ein Judocenter, dessen Inhaber die Kids weg von der Straße, weg von frühen Kontakten mit der Mafia locken will. Bloß ihren Vornamen nennt Valentina, eine 30-jährige arbeitslose Architektin. Auf die Fünf Sterne lässt sie nichts kommen. „Viele von denen kenne ich persönlich, ich habe absolutes Vertrauen zu ihnen, das sind ganz gewöhnliche Bürger, die sich engagieren und die wirklich an das glauben, was sie tun“, sagt sie mit leuchtenden Augen.
Enttäuschter Wähler
Draußen auf dem Hof dagegen schimpft ein junger Mann erst einmal auf die alten Parteien, vorneweg auf Renzi, der habe keines seiner Versprechen gehalten. „Ich bin jetzt 27, und ich hatte keinen einzigen Tag in meinem Leben einen vernünftigen Job, mit Sozialbeiträgen und so weiter.“ Die Familie hält sein Vater über Wasser, mit dem schmalen Salär von 850 Euro, das er als Schulhausmeister, beschäftigt bei einem von den Behörden angeheuerten Privatunternehmen, verdient. Vierzehn Geschwister habe sein Vater, „wir sind 90 Cousins“, resümiert der junge Mann aus Neapels Subproletariat, „und wir wählen alle die Fünf Sterne, das sind die Einzigen, die uns unsere Würde zurückgeben wollen“.
Viele Menschen glauben Di Maios Versprechen
Alles haben sie hier in Scampia schon probiert, haben erst für Berlusconi gestimmt, dann für Renzi. Als Di Maio di Sporthalle betritt, feiern sie ihn wie einen Messias, niemand der Leute in Billigjeans und ausgebeulten Jacken stört sich an seinem eleganten Anzug, an der schicken Krawatte. Deutlich wird aber auch: Stärker noch als die Versprechen Di Maios ist es die Enttäuschung über die anderen Parteien, die ihn tragen. Deutlich wird zugleich auch, dass die Positionierung „weder rechts noch links“ voll aufgegangen ist. Die einen draußen outen sich als frühere Linkswähler, die anderen als alte Anhänger der Rechten, jetzt stehen sie einträchtig zusammen. Und deutlich wird an diesem Tag in Neapel nicht zuletzt, dass das M5S mittlerweile eine echte Volkspartei ist, dessen Chef Di Maio genauso von den bürgerlichen Anhängern, den Freiberuflern oder Lehrern, wie von den Arbeitslosen aus Scampia gefeiert wird.
Und Beppe Grillo? Der ist in diesem Wahlkampf kaum präsent. Vor ein paar Monaten verkündete er seinen Rückzug aus der ersten Linie, er will sich in Zukunft auf die Rolle des „Garanten“ der Bewegung, sprich des Übervaters beschränken. Als neuen „Capo politico“ wählten die Mitglieder den – natürlich von Grillo ausgesuchten – Di Maio. Der Abtritt des Gründers hat die Fünf Sterne kein bisschen geschwächt, nicht bloß mit Di Maio, sondern auch mit zahlreichen anderen Parlamentariern hat sie eine ganze Reihe von Gesichtern, die sie heute ausmachen.
Das zeigt sich an einem kalten und windigen Nachmittag in Rom, im östlichen Viertel Tuscolano. Arbeiter, Angestellte, Handwerker wohnen hier, das M5S hat zu einem Treff der Wähler mit diversen Abgeordneten und Senatoren auf die ausgewählt hässliche Piazza Don Bosco geladen. Eine protzige Kirche, errichtet während des Faschismus, dazu Palazzi, die früher einmal weiß waren und jetzt schmutzig-grau sind, bilden die Kulisse. Keine Großkundgebung mit Ansprachen läuft hier, sondern bloß „Bürgergespräche“. Die meisten der paar Dutzend Leute wollen mit Paola Taverna reden, einer M5S-Aktivistin, die vor fünf Jahren in den Senat eingezogen ist und jetzt wieder kandidiert.
Auch sie redet erst einmal vom Grundeinkommen für alle. Wortkarger wird sie bei Themen wie Immigration und Flüchtlinge. Nein, für ein neues Staatsbürgerschaftsrecht zugunsten der Kinder von Migranten habe das M5S nicht gestimmt, führt sie aus, „die Rechten machen Stimmung gegen Migranten, die Linken geben die Gutmenschen, da hätten wir nur verlieren können“.
Sie steht damit ganz für die Linie des M5S, das Thema weitgehend aus dem Wahlkampf herauszuhalten und ansonsten rumzueiern und sich nicht festzulegen. Die Maio selbst zum Beispiel hatte in seinen Reden in Neapel kein Wort zu den Flüchtlingen verloren. Vor ein paar Monaten war er allerdings mit dem Spruch aufgefallen, die im Mittelmeer tätigen NGOs seien „Taxis des Meeres“, heute dagegen behauptet er, das habe er so nie gesagt. Wähler von rechts nicht verprellen, Wähler von links nicht verärgern: Dies ist die Marschroute.
Keiner auf der Piazza Don Bosco käme auf die Idee, die Senatorin zu siezen, „sie ist eine von uns“. Taverna, ein kleines schmales Energiebündel mit langen braunen Haaren und blitzenden Augen, arbeitete vor dem Einstieg in die Berufspolitik in einem prekären Job, „700 Euro pro Monat, Sekretärin in einem Gesundheitszentrum“, erzählt sie.
Es sind diese ganz normalen Biografien, die die 5-Sterne-Parlamentarier unterscheiden. Neben Taverna ist da der 41-jährige Stefano Vignaroli, seit 2013 Abgeordneter. Er war Techniker im Staatssender RAI und zugleich betätigte er sich in einer Umweltinitiative gegen die größte Müllkippe Roms, direkt vor seiner Haustür. Die Menschen, die zum M5S-Stand gekommen sind, reden mit „ihren“ Parlamentariern, ohne irgendein Abstandsgebot zu beachten, und keiner fordert sie ein. Wie in Neapel fällt wieder auf, dass diesmal, anders als vor fünf Jahren, kaum junges Volk präsent ist. Das spiegelt ein Stück auch die Entwicklung der Bewegung. Räumte sie damals unter den Jungwählern ab, so erzielt sie mittlerweile überdurchschnittliche Resultate bei den 25- bis 55-Jährigen, bei den beruflich Aktiven also. Unter den Arbeitern, den Arbeitslosen, den Freiberuflern, Handwerkern oder Unternehmern ist das M5S mittlerweile durchweg die stärkste Partei – bloß bei den Rentnern liegt Matteo Renzis PD noch vorn.
Bloß keine Angst mehr verbreiten
Am Stand kümmert sich der 40-jährige Marco Ferrauto um den Verkauf von 5-Sterne-Utensilien, vom vergoldeten Anstecker zur Fahrradklingel, von der Schirmmütze zur Jutetasche. Angestellter in einem Privatunternehmen ist er, in der Politik hat er sich bis vor drei Jahren nie engagiert. Von wegen bloß Grillo, von wegen bloß virtuelle Internetbewegung: „Hier im Stadtviertel treffen wir Aktivisten uns regelmäßig, und wir sind mit unseren Ständen auch jede Woche auf den Piazze, nicht bloß in Wahlkampfzeiten“, versucht er das Erfolgsgeheimnis des M5S zu erklären.
Und ein Euro-Austritt mit unkalkulierbaren Risiken für Italien, für Europa? Das sei kein Thema mehr, zuckt er die Achseln. Da ist er völlig einig mit Di Maio. Der sieht das genauso – wohl der einzige wirkliche inhaltliche Schwenk in den letzten fünf Jahren. Den versucht Di Maio mit den verschobenen Kräfteverhältnissen zu erklären, Deutschland und Frankreich seien halt nicht mehr so stark, erklärt er nach seinem Wahlkampfauftritt dem taz-Korrespondenten. Wahrer ist wohl das, was einer seiner Mitarbeiter sagt, als das Mikrofon ausgeschaltet ist: „Keine Angst mehr“ wolle man verbreiten, weder in Europa noch zu Hause. Dann seien, so hofft er, am Wahlsonntag auch mehr als 30 Prozent der Stimmen drin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen