Vor der Landtagswahl: U18 an der Urne: Sachsens Jugend wählt grün
Klares Ergebnis bei der U18-Wahl. Aber auch AfD und Die Partei sind stark. Vorab-Veranstaltungen wurden gut aufgenommen.
Der sächsische Kinder- und Jugendring, der die Wahl organisierte, gab die Ergebnisse am Mittwoch bekannt. Es war die erste landesweite U18-Landtagswahl in Sachsen. Vom 1. Juli bis zum 23. August hatten knapp 12.000 Jugendlichen und Kinder freiwillig und geheim ihre Zweitstimmen abgegeben.
Damit unterscheiden sich die Wahlergebnisse von den aktuellen Umfragen zur Landtagswahl. Bei den volljährigen Wahlberechtigten stünde die CDU mit knapp 30 Prozent auf Platz 1, die AfD wäre mit 25 Prozent zweitstärkste Kraft. Die Grünen gewännen in Sachsen zwar deutlich dazu, kämen derzeit allerdings nur auf Platz 4.
In einem Punkt stimmen die Ergebnisse aber überein: Auch die sächsische Jugend ist gespalten. Bei genauerer Betrachtung der Wahlkreise zeigt sich eine deutliche Kluft im Wahlverhalten zwischen den Städten und auf dem Land. So wählten im Erzgebirgskreis über 30 Prozent der Unter-18-Jährigen die AfD, und lediglich 10 Prozent die Grünen.
Manche wollen wählen, andere feiern
In Leipzig war das Verhältnis umgekehrt: Hier wählten 40 Prozent der Jugendlichen die Grünen. Nur 8 Prozent gaben der AfD ihre Stimme. Bei dieser Wahl ging es jedoch nicht nur um die Prozente, erzählt Wahlkoordinatorin Agnes Scharnetzky. „Die Wahl war ein breites Bildungsprogramm.“
Ein Teil davon fand vergangenen Freitagabend im Radebeuler „White House“ statt. Im Garten des Jugendclubs wirft ein Sonnensegel Schatten auf Bierzeltgarnituren. Braun lackierte Europaletten sind zur Bühne gestapelt. Hier sollen heute PolitikerInnen aus Parteien oberhalb der 5-Pozent-Hürde mit Kindern und Jugendlichen ins Gespräch kommen. Aus verschiedenen Orten des Landkreises sind diese mit eigens eingerichteten Shuttle-Bussen kostenlos angereist. Manche kommen um zu wählen, andere sind nur neugierig oder wollen feiern.
Sechs Wochen im Osten: Vor der Landtagswahl in Sachsen am 1. September 2019 war die taz in Dresden. Seit dem 22. Juli waren wir mit einer eigenen Redaktion vor Ort. Auch in Brandenburg und Thüringen sind bzw. waren wir vor den Landtagswahlen mit unserem #tazost-Schwerpunkt ganz nah dran – auf taz.de, bei Instagram, Facebook und Periscope. Über ihre neuesten Erlebnisse schreiben und sprechen unsere Journalist*innen im Ostblog und im Ostcast. Begleitend zur Berichterstattung gibt es taz Gespräche in Frankfurt (Oder), Dresden, Wurzen und Grimma. Alle Infos zur taz Ost finden Sie auf taz.de/ost.
Drinnen begrüßen Mitglieder des Jugendforums Meißen, dem heutigen Veranstalter, alle großen und kleinen Gäste mit Eintrittskarten, Tombola-Losen und Gutscheinen für „Futtern ohne Muttern“. Wer diese einlösen möchte, passiert eine Garderobe, in der heute zwei Wahlkabinen stehen.
Noch sind viele der heute Wahlberechtigten unentschlossen oder trauen sich die Entscheidung für eine Partei nicht zu. Ihnen soll das Abendprogramm und ausgelegtes Infomaterial des Kinder- und Jugendrings helfen. Gespräche vor Ort zeigen, dass die Jugendlichen ihre Stimme mit mehr Bedacht vergeben als manch ein Erwachsener. Auch Michelle aus Riesa, die sich offen zur AfD hingezogen fühlt, schaut genauer hin. Sie ist mit zwei Nachbarn hier, geflüchteten Syrern. Dass die AfD alle Flüchtlinge, unabhängig von begangenen Straftaten, abschieben wolle, mache sie unwählbar, erzählt sie mit Blick auf ihre Freunde.
Alte gegen Junge
Als sich die PolitikerInnen auf der Bühne anhand der Akronyme ihrer Parteien vorstellen, gilt das Interesse vor allem einander. Kein Wunder, denn nur wenige drücken sich in der Sprache junger Menschen aus. Interessanter scheint der zweite Programmpunkt: Wettbewerb Jugend gegen Politik. Dieser lockt auch die Coolkids von der Skaterampe zum Ort des Geschehens und fordert Freiwillige.
Die Moderatorin animiert gleichaltrige Pubertierende zum Mitmachen. Sie führt durch den gesamten Abend. Anastasia, eine Radebeulerin mit braunem Haar in schwarzem Kleid und verstaubten Sneakern, tritt zum Zungenbrecher-Wettsprechen an: „Wenn Schnecken an Schnecken schlecken, merken Schnecken zu ihrem Schrecken, dass Schnecken nicht schmecken“, sagt sie fehlerfrei durch ihre Zahnspange. Katja Schittko (SPD) schlägt sie mit nur wenigen Sekunden Vorsprung.
Während sich andere Jugendliche hin und wieder auf entfernte Bänke verteilen, verfolgt Anastasia das weitere Geschehen aufmerksam – deshalb sei sie schließlich hier. Der 15-Jährigen fehlt es vielleicht noch an differenziertem Verständnis dafür, welche Partei für was steht. Doch sie weiß, was ihr wichtig ist: „richtige Ziele“ gegen den Klimawandel, mehr Geld für soziale Berufe statt für die Polizei, ein sozialeres Schulsystem. Dafür möchte sie ihre Stimme geben.
Als sich PolitikerInnen und Jugendliche beim Tauziehen messen – nicht über Muskelkraft, sondern Quizfragen – rät Anastasia leise mit. Was isst ein vegetarischer Vampir? Welcher Fluss fließt durch Berlin? Wer antwortet in allen Sprachen, ohne sie gelernt zu haben? Bei der Frage, wann die DDR der BRD beigetreten sei, schlägt sie die Hände über dem Kopf zusammen und lächelt peinlich berührt: „Das weiß ich nicht“. Anscheinend ist dieses Kapitel abgeschlossen.
Große Themen
Die anfängliche Zurückhaltung der Jugendlichen hat sich nach den Spielen mit den PolitikerInnen gelöst. In der Pause vor der Diskussion stellen sich viele in eine Schlange vor die Wahlkabinen. Anastasia ist eine von ihnen und studiert mit ernster Mime den Stimmzettel. Als sie wenige Minuten später wieder ins Tageslicht tritt, atmet sie tief aus. Es sei schwierig gewesen: „Man hat nur eine Stimme und wählt. Da fragt man sich schon: war das nun richtig oder falsch?“
Veranstaltungen wie diese fanden in den letzten acht Wochen in ganz Sachsen statt, finanziert vom Bundesministeriums für Familie und der Bundeszentrale für politische Bildung. Die Koordination allerdings lag beim Kinder- und Jugendring Sachsen – genauer: Agnes Scharnetzky. Als die taz sie vergangene Woche in der Dresdner Neustadt trifft, trägt die junge Frau ein förmliches Kleid. Die Zahl der Gepäckstücke zeugen vom Arbeitstag. Mit schnellen Worten und wachen Augen beginnt sie zu erzählen.
Erprobt bei der U18-Europawahl, hat Scharnetzky die U18-Wahl von der Idee bis zur Durchführung federführend begleitet. Dies ist kein Widerspruch – denn schon vor Wahlbeginn haben Jugendliche die inhaltliche Arbeit gestaltet. In Workshops wurden Themen zusammengetragen, die Jugendliche bewegen. Eine Jury aus sieben SchülerInnen verschiedener Schulformen und einer Studentin hat daraus zentrale Themen ermittelt. Daraus wurden Fragen an Parteien formuliert.
Neben der Herabsetzung des Wahlalters standen Infrastruktur-, Schul- und soziale Themen hoch im Kurs. Der Sinn für Gerechtigkeit ist Scharnetzky in den betreuten Workshops besonders aufgefallen. Die Jugend sei stärker darin, ihre Privilegien zu reflektieren, als ihre Eltern. „Natürlich nennen sie das nicht so. Aber sie erkennen: Ich schaue mich um und sehe, dass Leute um mich herum nicht das haben, was ich habe“. Auch die Frage: „Was tut ihr eigentlich dafür, dass wir hier bleiben?“, treibe viele um.
Weltoffene Jugend
Bis auf die AfD gaben die im Landtag vertretenen Partien Antworten. So entstanden Wahlprüfsteine, die die Wahl erleichtern sollen. Dies sei niedrigschwellig aber nicht oberflächlich, denn „so funktioniert Politik“, sagt Scharnetzky.
Auch wenn die Ergebnisse keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des sächsischen Landtags haben, werden sie eine Orientierung in der Interessenvertretung der sächsischen Jugend sein, erklärt Scharnetzky. „Ein positiver Nebeneffekt ist, dass auch politische Bildung der Fachkräfte stattfand“. Diese zeigten sich in politischer Bildungsarbeit meist verunsichert, sagt Scharnetzky. Nach der Europawahl wurden die Wahlkreise von drei auf nun sieben vergrößert, um den Rückschluss von Ergebnissen auf bestimmte Einrichtungen weiter zu erschweren.
Eine Erklärung für die starken Unterschiede zwischen Stadt und Land lediglich bei Eltern oder Bildungsangeboten zu suchen, ist jedoch ein falscher Rückschluss. Sie sind das Ergebnis von Strukturschwäche und die fehlende Erreichbarkeit der Vielfalt von Lebensformen und Angeboten der Ballungsgebieten. Wo nur zwei Mal am Tag der Bus fährt, findet wenig Austausch statt.
Im Gesamtergebnis aber zeigt die U18-Wahl eine Orientierung an demokratischen Parteien und ein Umweltbewusstsein, das sich im Bundesdurchschnitt wohl wieder fände. Ginge es nach den Kindern und Jugendlichen, würden sie Sachsen weltoffener gestalten.
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