Vor den Wahlen in Afghanistan: Fragezeichen über Kabul
Schafft es der amtierende Präsident Karsai im ersten Wahlgang? Neben der Höhe der Wahlbeteiligung eine der wichtigsten Fragen im afghanischen Wahlkampf.
KABUL taz | Über den Slogan "Volkes Unterstützung für den verehrten Hamed Karsai" auf dem Wahlposter hat jemand ein leuchtend gelbes Fragezeichen geklebt. Fragezeichen stehen nicht nur hinter der Popularität des Amtsinhabers, sondern hinter den Wahlen insgesamt, ihrer Legitimität, der Sicherheit der Wähler und der Wahlbeteiligung. Taliban-Chef Mullah Mohammed Omar hat angekündigt, seine Leute würden am Vortag der Wahl alle Straßen blockieren. Mit dem tödlichen Selbstmordattentat im Zentrum von Kabul am vergangenen Wochenende haben sie deutlich gemacht, dass sie es ernst meinen.
Von einer Mischung aus "Desinteresse und Erwartung" in Bezug auf die Wahlen spricht die niederländische Afghanistan-Expertin Martine van Bijlert. Die meisten afghanischen Angestellten, heißt es bei einer deutschen politischen Stiftung in Kabul, hätten sich nicht einmal als Wähler eintragen lassen. Soldat Hussain Schah*, der in Kabuls Augusthitze vor dem Kampagnenbüro eines Kandidaten Wache schiebt, hält hingegen seine Registrierung stolz in die Kameras der internationalen Reporter.
Politische Beobachter spekulieren derzeit vor allem darüber, ob Karsai bereits im ersten Wahlgang am 20. August siegen kann oder es eine zweite Runde geben wird. Die müsste Anfang Oktober stattfinden, zwei Wochen nach Verkündung des Endergebnisses, die für den 17. September erwartet wird. Fast täglich streuen die Regierungsmedien Gerüchte, um den Wahlkampf von Karsais Hauptgegnern aus dem Tritt zu bringen. Exfinanzminister Ashraf Ghani Ahmadzai soll zugestimmt haben, in Karsais Lager zu wechseln, hatte man vorige Woche einer britischen Zeitung gesteckt. Ahmadzai dementierte. Ein paar Tage später meldete der Staatsrundfunk, beide Vizepräsidentenkandidaten Abdullah Abdullahs hätten sich hinter Karsai gestellt. "Unsinn", sagte einer von ihnen auf taz-Nachfrage.
Abdullah ist derzeit Karsais wichtigster Gegner. Auf Plakaten posiert der studierte Kinderarzt mit Widerstandsikone Ahmed Schah Massud oder dem korpulenten afghanischen Filmstar Qais in Macho-Pose - immer mit seinem Wahlslogan "Wechsel und Hoffnung". Der frühere Mudschaheddinführer versucht derzeit, dieses Image abzustreifen und sich als Paschtune neu zu erfinden. Sein Vater stammt wie Karsai aus Kandahar, wo er diesem Stimmen abspenstig machen will. Doch nach einer Wahlkampfveranstaltung dort merkte die afghanische Presse bissig an, sein Paschtu sei gebrochen. Vergebliche Liebesmühe, meint auch Zmarai Storai, ein junger gebildeter Paschtune - "das kaufen wir ihm nicht ab".
Chancen auf einen Achtungserfolg hat auch der Kabuler Abgeordnete Ramazan Baschardost. Bereits seit dem letzten Jahr befindet er sich in permanentem Wahlkampf, den er als populistische Kleineleuteshow aufzieht. Kürzlich schlug er in einem Kabuler Stadtpark ein Zelt auf und empfing Petitionäre. Zurzeit tourt er mit einem ramponierten Kleinbus, auf dessen Seite er "Karsai Kutsch" - etwa: Karsai, verzieh dich! - gesprayt hat, durch ganz Afghanistan. Im Süden der Aufstandsprovinz Ghazni hielten ihn Taliban an, erkannten ihn - und ließen ihn weiterziehen. "Wenn du Paschtune wärst, würde ich dich wählen", soll der Kommandeur gesagt haben. Die ethnische Frage wird letztendlich aber gegen den in Lyon studierten Ökonomen sprechen, der am liebsten alle Ausländer - zivil oder nicht - aus dem Land werfen würde.
Debattiert wird auch, ob die Niederlage des Hauptkonkurrenten Abdullah Abdullah, früherer Außenminister, zu Gewaltausbrüchen führen wird. Mitte des Monats wurde sein Kampagnenchef mit den Worten zitiert, man werde eine Niederlage nicht hinnehmen. Mit Hinweis auf die Nachwahlunruhen im benachbarten Iran fügte er hinzu, in Afghanistan würde es weniger glimpflich abgehen als dort, denn: "Jeder hier hat eine Kalaschnikow zu Hause."
Afghanen im Aufstandsgebiet sorgen sich eher über die unabwaschbare Tinte für die Zeigefinger der Wähler, die eine mehrfache Stimmabgabe verhindern soll. Was, wenn die Taliban eine Stimmabgabe bestrafen? Viele Paschtunen im Süden werden wohl lieber zu Hause bleiben.
Dschandad Spinghar vom Dachverband der regierungsunabhängigen afghanischen Wahlbeobachter, befürchtet vor allem massive Wahlfälschungen. Entrüstet blättert er in einer dicken Kladde, die Formulare für die Wählerregistrierung enthält. "Das hat eine Partnerorganisation auf dem Basar gekauft", wo genau, will er nicht sagen. Wer so einen Band besitzt, kann sich praktisch selbst einschreiben. Echte Wählerausweise kann man gleich bündelweise kaufen, das Stück für 1 US-Dollar. Auf einem Internetblog tauchte kürzlich sogar ein Exemplar mit dem Bildnis Britney Spears auf. Die Zahl von 4,4 Millionen Neuregistrierten hält Spinghar für völlig übertrieben.
Für Furore sorgte die am Dienstag veröffentlichte Umfrage einer bisher in Afghanistan nicht öffentlich in Erscheinung getretenen Washingtoner Forschungseinrichtung, die angeblich vom US-Außenministerium in Auftrag gegeben worden sei. Sie sagt Karsai 36, Abdullah 20, Baschardost 7 und Ahmadzai 3 Prozent der Stimmen voraus. Die meisten anderen der 38 Kandidaten werden kaum über 1 Prozent kommen. Doch in ihrer Masse können sie Karsai unter die absolute Mehrheit drücken und eine Stichwahl erzwingen.
In Kabul geht das Gerücht um, die Umfrage repräsentiere das Wunschergebnis der USA. Washington sei daran interessiert, dass Karsai nicht gleich in der ersten Runde siegt. Das erscheint sogar logisch: Für die Obama-Administration wäre es sehr viel schwieriger, einen durch einen Sieg im ersten Wahlgang legitimierten Karsai in Sachen Korruptionsbekämpfung und effektiver Regierungsführung unter Druck zu setzen. Das sind Kernprobleme, die auch viele Afghanen bewegen. Sie wollen endlich sehen, dass die Milliardenhilfen aus dem Ausland nicht auf den Auslandskonten korrupter Beamter landen, sondern in dauerhafte Aufbauerfolge umgesetzt werden.
Die Haltung der USA, so konstatiert auch van Bijlert in ihrer jüngsten Studie "Wie man eine Wahl in Afghanistan gewinnt", ist für viele Afghanen der wahlentscheidende Faktor. Sie glauben einfach nicht, dass sich die Supermacht nach ihrer massiven Unterstützung Karsais vor fünf Jahren diesmal wirklich heraushalten will. Deshalb stellen sie sich die Frage, ob Karsai wirklich bereit ist, sich dem Wunsch Washingtons zu widersetzen und damit seine bisherige Hauptstütze zu verärgern. In einem zweiten Wahlgang, fürchtet er, könnte es für ihn noch einmal eng werden. "Alle hier glauben an Karsais Sieg, nur er selbst nicht", meint ein westlicher Beobachter.
Auf jeden Fall hat der angebliche Druck der USA auch den bis vor kurzen recht lahmen Wahlkampf belebt, der sich bis dahin auf Plakatkleben beschränkt hatte. Große Wahlveranstaltungen waren eher rar geblieben. Vor allem Karsai wagte sich kaum aus seinem gut gesicherten Präsidentenpalast. Sogar eine Teilnahme an der ersten Elefantenrunde in der afghanischen Fernsehgeschichte schlug er aus - wegen Voreingenommenheit des Senders. Dabei sahen zehn Millionen Afghanen zu. "Das hat seinem Ansehen ziemlichen Schaden zugefügt", sagte Muin Aschrafi*, der für eine ausländische Organisation in Kabul arbeitet. "Warum stellt er sich nicht den Fragen der Leute?"
Das hat Karsai und seine Berater doch aufgeschreckt. Im Helikopter flog Karsai am vorletzten Wochenende zu Auftritten im paschtunischen Gardes und bei der ismailitischen Minderheit im Kajan-Tal. Am Freitag folgte Herat. Abdullah und Ahmadzai übertrafen ihn noch in der Zahl der Meetings. Allen jubelten große Menschenmengen zu. Schon vor einer Woche hatte am Montag Karsai die Medien zusammengerufen, um Elemente seines Programms vorzustellen: mehr einheimische Soldaten und Polizisten, eine Reihe von Staudämmen für die Energieversorgung und massive Investitionen in den Agrarsektor. Stärkster Akzent jedoch war die Ankündigung einer Loja Dschirga gleich nach dem Wahlsieg, die eine Verständigung mit den bewaffneten Aufständischen herbeiführen soll. Wie genau, ließ Karsai offen.
Von den Menschenmengen bei den Wahlmeetings solle man sich aber nicht täuschen lassen, meint Saber Naseri, ein Zahnarzt mit Vergangenheit als Kämpfer gegen die Sowjets: "Die Leute wollen vor allem Spaß und kriegen dort warmes Essen." Wahlpräferenzen ließen sich daraus nicht ableiten. Das von Karsai ungeliebte Tolo TV fordert die Wähler regelmäßig in Spots auf, Geldgeschenke der Kandidaten anzunehmen, aber trotzdem so zu stimmen, wie das Gewissen es vorgebe. Ansonsten persifliert der Sender die Kampagne und lässt Schauspieler die unsinnigsten Wahlversprechen verbreiten: "Waschmaschinen für alle".
*Namen geändert
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