Von der Leyen wird Kommissionschefin: Ein Konsens gegen die Illiberalen
Die Wahl von der Leyens zur EU-Kommissionschefin ist nicht das Ende der Demokratie. Doch nun muss sie für eine transparentere Postenvergabe sorgen.
E s lebe Europa, vive l’Europe, long live Europe“, hat Ursula von der Leyen ihre leidenschaftliche Rede im Europaparlament geschlossen. Aber kann man die EU nach der Wahl zur Kommissionschefin überhaupt noch hochleben lassen – nun, da eine Kandidatin im Brüsseler Spitzenamt steht, die sich vorher nicht einmal zur Wahl gestellt hat? Die Frau, die von den Visegrád-Staaten ins Amt gehievt worden ist, auch um den Sozialdemokraten Frans Timmermans zu verhindern?
Ursula von der Leyen ist sicherlich nicht die Kandidatin, die sich viele EuropäerInnen gewünscht hätten. Aber ihre Wahl ist keineswegs das vielbesungene Ende der europäischen Demokratie – sie ist eben der Kompromiss eines gespaltenen Europäischen Rates, die Konsenskandidatin nach langen Verhandlungen demokratisch gewählter Staats- und Regierungschefs.
Und immerhin: Nach ihren klaren Worten etwa zur Geschlechtergerechtigkeit bei ihrer Rede am Dienstag sieht es so aus, als dürften sich illiberale Kräfte in Ungarn, Polen und Tschechien noch wundern. In den kommenden Monaten wird sich zeigen, ob von der Leyen im Rat ein entsprechendes Gewicht hat.
Die Kritik von Abgeordneten in Straßburg an der Schwächung des Europaparlaments ist letztlich abgeschmackt: Indem die Abgeordneten in Straßburg keine Kandidaten mit Mehrheit im Europaparlament präsentieren konnten, gaben sie ihr einziges Druckmittel aus der Hand. Dabei zeichnete sich schon im Jahr 2018 ab, dass sich nicht alle Staats- und Regierungschefs an das Spitzenkandidatensystem gebunden sehen würden. Der Europäische Rat war es also ganz sicher nicht, der ein Versprechen gegeben und dann gebrochen hat – Präsident Emmanuel Macron hat sich immer wieder gegen die seines Erachtens mangelhafte Regelung ausgesprochen.
Jetzt liegt es ausgerechnet an von der Leyen, die von der Niederlage der diesjährigen SpitzenkandidatInnen profitierte, den Prozess der Postenvergabe weiterzuentwickeln, etwa indem sie europaweite Wahllisten noch einmal zur Diskussion stellt. Denn die Debatten der vergangenen Wochen zeigen, dass es nicht mehr vermittelbar ist – dieses Aus-dem-Hut-Zaubern einer Kandidatin, deren Namen die meisten EuropäerInnen wohl kaum vor ihrer Nominierung kannten.
Die europaweite Wahlbeteiligung ist in diesem Jahr seit zwei Jahrzehnten zum ersten Mal wieder gestiegen, mehr als 50 Prozent der Wahlberechtigten gaben im Mai ihre Stimme ab. Die Kommission darf dieses Interesse nun nicht durch Untätigkeit verspielen. „Vive l’Europe“, sagt sonst bald keiner mehr.
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