Von Wohnungswechsel und Herbstblues: Einfach so wohnen wollen
Ich weiß nicht mehr, wer ich bin, ich weiß nicht mehr, wer ich war … Unsere Kolumnistin musste umziehen. Was das mit ihr macht, beschreibt sie hier.
P lötzlich ist es Herbst, und ich bin umgezogen. Nicht freiwillig, ich musste, und wenn umziehen an sich schon anstrengend und nervig ist, dann ist es in einem solchen Fall etwas, wofür es noch keine gute Metapher gibt.
Jeder Gegenstand birgt eine Erinnerung, alles muss getrennt werden, Bilder und Kaffeekannen, Bettwäsche (ach!), Fotos, Schallplatten, Bücher. All die Dinge, die man anschafft, füreinander, die nicht dafür gedacht waren, einmal getrennt zu werden, weil sie zusammen bedeuten, weil sie getrennt nichts mehr sind.
Alles ist staubig, nichts mehr zu finden, Schrauben, Werkzeug überall, aber nie das, was man braucht. Glühbirnen gehen kaputt, Holz splittert, und alles, was passiert, scheint ein Bild für den Zustand, in dem man sich selbst befindet, in diesem Falle: ich. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin, ich weiß nicht mehr, wer ich war. War ich wir, war ich ich? Gegenstände umkreisen mich, aussortiert, ausgesucht, was will ich noch, was brauche ich, was tröstet mich und was ersetze ich?
Plötzlich ist es Herbst, und ich wohne woanders, zur Untermiete wohne ich, aber ich wohne. Ach, du wohnst? In Hamburg? Wirklich? Wie nett, das würde ich auch gern. Sieh mal an, sie wohnt. Glück gehört dazu. Einfach daherkommen und wohnen wollen, das geht ja nicht. Da muss man schon irgendwie, ich weiß auch nicht.
Ununterbrochen donnern die Lkws
An der Harkortstraße in Hamburg-Altona, direkt an der ehemaligen Holstenbrauerei, die jetzt in Schutt und Schutt liegt, auf deren Gelände giftgrüne Seen schillern, auf deren Gelände lange schon Wohnungen gebaut werden sollen, stehen Altbauwohnungen leer.
An der Stresemannstraße donnern ununterbrochen die Lkws, die Autos, die Busse. An der Stresemannstraße wohnen Menschen, wohnen Kinder, die ganze Straße entlang. Sie müssen wohnen, sie wohnen eben da.
Warum müssen Menschen an der Stresemannstraße wohnen? Warum gibt es eine Stresemannstraße? Warum gibt es keine besseren Wohnungen für die Menschen, die an der Stresemannstraße wohnen? Meine neue Nachbarin wird von Sanitätern abgeholt, im Treppenhaus höre ich sie laut stöhnen.
Ich bin umgezogen, Freund*innen haben Kuchen mitgebracht, ziehen mit mir um, schenken mir Pflanzen und Kuchen und sich noch dazu.
Und ich denke, denk nicht so!
Ich bin hier neu und fühle mich alt. Fühle mich traurig, fühle mich nüchtern. Trete aus mir heraus und sehe mich um. Kehre in mich zurück und verkrieche mich. Gehöre nicht hierher, bin hier gelandet, mache es mir schön, will nie mehr auf die Straße gehen. Derweil gibt es anderswo Überschwemmungen, und ich denke, alles wird immer schlimmer. Und ich denke, denk nicht so! Und ich denke, denk nach vorn! Was wartet da? Klimakrise und Turbokapitalismus.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Ich sitze in meinem Untermietzimmer und draußen ist es kühl geworden, sonnig, golden. Auf der Stresemannstraße fahren die Lkws immer weiter und an der Stresemannstraße wohnen die Kinder immer weiter, glauben vielleicht, dass sie eine Zukunft haben.
Meine neue Nachbarin liegt im Krankenhaus und stöhnt nicht mehr, so hoffe ich. Wenn sie wiederkommt, werde ich klingeln und sagen: Guten Tag, hier wohne jetzt ich, und wenn Sie Mehl brauchen oder Hilfe …
Mir geht es nicht so besonders gut, aber ich wohne nicht direkt an der Stresemannstraße, sondern hundert Meter weiter. Am Kiosk an der Kreuzung hängen sie rum und sind verrückt und laut und trinken.
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