Von Menschen und Wölfen: Wolfswesen
Geschichten vom „bösen Wolf“ ziehen sich durch die Literatur. Erst in den 1990er-Jahren wurden aus den Bestien Vorbilder.
In der Zeit des Dreißigjährigen Krieges spielt der Roman von Hermann Löns „Der Wehrwolf“ (1910): Ein ganzes Dorf wird darin wölfisch, das gefiel den Nazis: Hitler ließ sich „Wolf“ nennen, sein Hauptquartier in Ostpreußen nannte er „Wolfsschanze“ und sein letztes partisanisches Aufgebot hieß in Anlehnung an ein Freikorps „Werwolf“.
Im französischen Zentralmassiv hatte man die dörfliche Bevölkerung entwaffnet. Zum Hüten des Viehs wurden dort Kinder oder alte Leute eingesetzt. Mitte des 18. Jahrhundert soll dort ein Wolf zig Hirten getötet haben. Er wurde „Bestie von Gévaudan“ genannt und königliche Jagdkommandos gegen ihn aufgeboten. Sie töteten auch viele Wölfe, die Bestie riss jedoch weiter Kinder. Ein Gastwirt hielt das Tier für einen Werwolf, den man nur mit einer geweihten Kugel aus Silber erlegen könne. Und so geschah es dann 1767 auch. Danach hörten die Morde auf.
In „Der Staat“ führte Platon die Wolfwerdung des Menschen auf den Genuss von menschlichen Innereien zurück. Die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk erzählt in ihrem Roman über ihr schlesisches Bergdorf „Taghaus Nachthaus“ (2019) die Geschichte von fünf Männern, die 1943, um nicht zu verhungern, einen Toten aßen. Das Menschenfleisch bewirkte bei einem der Männer, der Latein- und Griechischlehrer wurde, dass bei ihm in den Fünfzigerjahren „der Wolf die Oberhand gewann“.
Er litt aber nur darunter, wenn er bei Vollmond den Wolf „in sich nicht zuließ“: Seine Verwerwolfung war eine Befreiung. Um dennoch keine Gefahr für Mensch und Vieh zu sein, wollte er lieber sterben. Er fing an, Blut zu spenden, „öfter als erlaubt“, aber auch nach zwei Eimern Blut „war er immer noch nicht tot“.
In Deutschland kam das Wölfische noch einmal in der Wendezeit hervor: In der Berliner Treuhandanstalt wimmelte es plötzlich von westdeutschen Privatisierungsmanagern, die „Wolf“ mit Vor- oder Nachnamen hießen. „Die benehmen sich schlimmer als Kolonialoffiziere“, meinte selbst der Treuhandchef Detlev Rohwedder. Ihnen gegenüber standen auf ostdeutscher Seite überforderte Betriebsräte, die nicht selten Friedbert, Christfried oder Lammfromm hießen, einer sogar Feige mit Nachnamen: Ein merkwürdiger Fall von Namensmagie am Ende des 20. Jahrhundert, der sich dann im 21. mit „Wolfowitz“ u. a. fortsetzte.
In Victor Pelewins postsowjetischer Erzählung „Werwölfe in der mittelrussischen Ebene“ sind es die Angehörigen einer Russen-Mafia, die sich bei Vollmond in Werwölfe verwandeln, wobei sie die Rangabzeichen und Befehlsstrukturen von KGB-Offizieren annehmen. In Thomas Pynchons US-Roman „Mason & Dixon“ verwandelt sich umgekehrt ein englischer Werwolf namens Ludewik, der in einem Tunnellabyrinth überlebt hat, regelmäßig und zum Schrecken seiner Mitmenschen in einen „glatt rasierten, etwas schmalen Jüngling“ – einen „Durham-Dandy in Silberbrokat“.
In den Neunzigerjahren kam es aber zu einem „Wolfs-Turn“: Aus den Bestien wurden Vorbilder. Das verdankte das Raubtier den Frauen: Hatte schon die Ehefrau das Wolfforschers Erik Ziemen das eine oder andere Wölfchen gesäugt, wandten sich nun einige Frauen ganzen Rudeln zu. Erwähnt seien die Pianistin Hélène Grimaud, die Biologin Gesa Kluth und die Zootierpflegerin Tanja Askani.
„Alle drei sind Wölfen begegnet und ihnen verfallen,“ schreibt der Hobbyjäger und Welt-Redakteur Eckhard Fuhr, der 2014 ein Buch über Wölfe veröffentlichte, die er bezogen auf Deutschland als „Heimkehrer“ bezeichnete, die nun „unser Leben verändern“. Die Rechtsanwältin Elli Radinger beispielsweise gab ihnen zuliebe ihren Beruf auf und schreibt seitdem Bücher über sie. In „Die Weisheit der Wölfe“ (2017) ging sie unter anderem der Frage nach, „Was Frauen und Wölfe verbindet“. Darüber denkt auch die Falknerin Tanja Askani nach in ihren Wolfsbüchern.
Der este Rückkehrer hatte drei Beine
Der erste Wolf hierzulande kam im Jahr 2000 über die Oder-Neiße-Grenze, ein dreibeiniger Wolf, er wurde Naum genannt, eingefangen und mit einer russischen Wölfin in ein Gehege des Wildparks Schorfheide gesperrt, aber weitere Wölfe folgten. Zum Jahresende 2019 teilte das Bundesamt für Naturschutz mit: „In Deutschland leben 105 Wolfsrudel. 257 erwachsene Wölfe wurden erfasst. Die meisten Wolfsverbände leben in Brandenburg (41), gefolgt von Sachsen (22) und Niedersachsen (21). Es gibt Wolf-Management-Pläne. Sie haben einen Duldungsstatus, es sei denn, sie entwickeln sich zu „Problemwölfen“.
In Hamburg fand 2019 im Museum am Rothenbaum die Ausstellung „Von Wölfen und Menschen“ statt. Im Vorwort des Katalogs berichtete die Museumsleiterin, wie der Wolf in ihr Haus gelangte. Inspiriert hatte sie der 2004 in China erschienene Roman „Wolf Totem“ von Jiang Rong. Die chinesischen Kulturfunktionäre und -beobachter sprachen von einem „Marktwunder“, weil sie sich nicht erklären konnten, wie solch ein langatmiger Roman in wenigen Monaten über 500.000 Mal verkauft werden konnte. Er handelte ausschließlich von einem Tier, beinhaltete keine Sex- oder Liebesszenen und wurde zudem noch von einem bisher völlig unbekannten Autor geschrieben.
Der Wolf als Vorbild
Es geht darin um die Philosophie und Moral des „Wölfisch-Werdens“. Jiang Rong meint, dass es die kleinteilige chinesische Landwirtschaft war, die aus den Chinesen Schafe gemacht habe: „Sie sind unterwürfig, demütig und passiv, dazu verdammt, geschlagen und eingeschüchtert zu werden. Dem gegenüber haben die Mongolen der Steppe Selbstbewußtsein und großen Mut – so wie der Wolf!“ In der Tat haben die chinesische Reisbauernkultur und die inzwischen aufgelösten „Kommunen“ Kollektivität hervorgebracht. Die boomende Handels- und Industriegesellschaft verlangt dagegen eher individuelles Denken und Handeln – so wie es die nomadischen Viehzüchter angeblich vorgelebt haben.
Für den Literaturkritiker Zhang Qianyi aus Hongkong ist das eine „allzu simple Geschichtsauffassung“. In der chinesischen Geschäftswelt, „wo sich heutzutage die heftigste Jagdleidenschaft austobt,“ wie die China Daily schreibt, stieß sie jedoch auf große Resonanz. Dort meint man, dass der Wolf Vorbild für den modernen Geschäftsmann sein sollte: „Aus dem Buch von Jiang Rong erfahren wir, dass die Wölfe ausgezeichnete militärische Führer sind,“ meint zum Beispiel. Zhang Ruimin, Geschäftsführer der Haier-Group, einer in Shandong ansässigen Elektrofirma.
Der Computerspezialist Fu Jun fand, „wie der Autor die Wölfe beschreibt, aber auch die mongolischen Nomaden, das hat mich sehr berührt. Es sind harte Burschen, die bis zum letzten Blutstropfen kämpfen. Einige ihrer positiven Eigenschaften sind es wert, von uns übernommen zu werden, z. B. durch unsere Fußball-Mannschaften, damit sie ihre Gegner besiegen – statt besiegt zu werden.“
In Deutschland erschien das Buch 2008 unter dem Titel „Der Zorn der Wölfe“. Was der Autor über die Mongolen und ihr Verhältnis zu den Wölfen zu sagen hat, ist im Übrigen großteils Unfug. Das Hamburger Museum leuchtete das Phänomen Wolf gründlicher als er aus – auch dass Werwölfen in Hamburg im 16. und 17. Jahrhundert, wenn man sie fangen konnte, ein Prozess wegen Hexerei gemacht wurde, der meist mit ihrer Hinrichtung endete.
Der Werwolf, das ist heute der „Problemwolf“. So einen hatte schleswig-holsteins Umweltminister Jan Philipp Albrecht (Grüne) ausgemacht. Er hieß Dani (offiziell GW924m), hatte einige Schafe gerissen und sollte erschossen werden. 200 Hobbyjäger standen bereit, sie verlangten aber vom Minister, anonym bleiben zu dürfen, denn es könnte sein, dass sie von Feministinnen verhext werden oder sich blamieren, weil sie den falschen Wolf abgeschossen haben.
Schließlich war es ein ganz anderes Schicksal, das Dani ereilte: Nach Wanderungsbewegungen über Mecklenburg-Vorpommern und vermutlich Brandenburg – ganz sicher ist das nicht nachgewiesen – lief er nahe dem niedersächsischen Gifhorn vor ein Auto. Am 6. Januar 2020 wurde er schon stark verwest im Walf gefunden.
Im Osten geht man anders mit Wölfen um: Seitdem in der Oberlausitz Wolfsrudel leben, koordiniert das Görlitzer Museum für Naturkunde die Untersuchungen der sächsischen Wolfsvorkommen. In der dazugehörigen Naturforschenden Gesellschaft erfuhr ich vom Ornithologen Dr. Fritz Brozio, dass die Wiederaufforstungen unter den Hirschen, Rehen und Wildschweinen leiden. Die Jagdpächter fütterten noch mehr Tiere durch als die früheren ZK-Mitglieder, die schon Millionen für ihre Jagdgebiete ausgaben. Zur Freude der Wölfe, fügte er hinzu. Leider gebe es nicht genug Wölfe! Während im Norden die Fleischfresser zum Problem werden (nicht zufällig veröffentlicht Die Zeit regelmäßig Zahlen über Vegetarier), sind im Osten eher die Pflanzenfresser das Problem.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Rückzug von Marco Wanderwitz
Die Bedrohten
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül