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Völkermord an ArmeniernNur die halbe Miete

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Dass Joe Biden das Massaker an den Armeniern als Völkermord anerkennt, ist ein diplomatischer Erfolg. Konkret verändern wird sich deshalb nichts.

Der türkische Präsident Erdogan will von dem Völkermord vor gut 100 Jahren nichts wissen Foto: Mustafa Kamaci/Turkish Presidency via ap

M it den USA, den meisten europäischen Staaten und Russland haben sich jetzt fast alle relevanten Länder dazu durchgerungen, den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkrieges anzuerkennen. Jahrzehntelang hat vor allem die armenische Diaspora in Europa und den USA dafür gekämpft. Jetzt hat sie erreicht, was lange überfällig war. Doch in der Praxis ist damit noch nicht viel gewonnen.

Die Türkei als Rechtsnachfolger des Osmanischen Reiches bestreitet, dass es 1915/16 einen systematischen Völkermord gegeben hat, und verweigert Entschädigungen und erst recht Rückgabe von Land oder gar ein Abtreten „Westarmeniens“ an den heutigen Staat Armenien. Mit internationalem Druck kann zwar einiges erreicht werden. Eine fundamentale Veränderung der türkischen Politik wird es jedoch kaum geben.

Dazu kommt, dass mit Maximalforderungen, wie die Abgabe großer Gebiete der Osttürkei, die von einigen armenischen Gruppen und Parteien erhoben werden, allenfalls erreicht wird, dass sich die türkische Regierung weiter komplett stur stellt. Es kann nur über den Weg des Gesprächs auch auf nichtstaatlicher Ebene gehen, über den Abbau der gegenseitigen Feindbilder und letztlich über einen politischen Dialog mit dem Ziel der Normalisierung zwischen der Türkei und Armenien.

Die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, wie unklug es war, von der Türkei als Vorbedingung für den Dialog zunächst die Anerkennung des Völkermordes zu fordern, auch wenn das moralisch verständlich ist. Der erste Schritt muss eine Öffnung der Grenze sein, um mehr Kontakt zwischen den beiden Gesellschaften zu ermöglichen. Das wäre für Armenien auch ökonomisch wichtig, denn das Land hat sonst kaum Zugang zu westlichen Märkten.

Der Krieg um Berg-Karabach, den Aserbaidschan mit türkischer Unterstützung gewonnen hat, ließ die Feindbilder und Traumata in Armenien aufleben. Doch so paradox es erscheint: Dieser Krieg könnte den Weg zum Frieden geebnet haben. Aserbaidschan wird sich jetzt nicht mehr wie noch im Jahr 2009 gegen eine Grenzöffnung und gegen Gespräche zwischen der Türkei und Armenien stellen.

Wenn in Armenien im Sommer eine neue Regierung gewählt ist und sicher im Sattel sitzt, könnte mit internationaler Hilfe ein neuer Anlauf gemacht werden. Wie 2009 müssten die USA und die EU gemeinsam ein Gesprächsforum schaffen, in dessen Rahmen sich Vertreter der Türkei und Armeniens austauschen können. Am Ende steht dann vielleicht auch die Anerkennung des Völkermordes durch die Türkei.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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6 Kommentare

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  • Das Problem als "Elefant im Raum" Kleinasien, aktuell aus der US-Perspektive fokussiert u. wirkmächtig zumindest benannt, ist wohl eher im Rahmen geostrategischer Überlegungen sinnvoll zu analysieren u. interpretieren. Weder ist ein Paradigmenwechsel im Katalog von Sanktionen und Maßnahmen erkennbar in der festgefahrenen Situation, noch kann die wirtschaftlich angeschlagene Türkei effektiv in üblichem Nationalismus arrogant reagieren. Der Begriff Genozid* für einen mörderischen Exzess einer der extrem gewalttätigen Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert ist gerechtfertigt, u.a. da die geplante Vernichtung n. Bekunden der späteren NS-Verbrecher**, auch des Bösesten der Bösen u. seiner Schergen Eichmann u. Konsorten, die blutige Blaupause für die braune Kopie in Nazi-Deutschland wurde. Rassismus gepaart mit Nationalstolz war einigen elitären Jungtürken speziell eine Ideologie zur Beherrschung der Massen im Vielvölkerstaat Osmanisches Reich, mit allen Facetten von mörderischer Unterdrückung und Abwertung durch inszenierte eigene Aufwertung als Oligarchie. Eine Distanzierung von Menschenrechtsverletzungen nach über 100 Jahren und dem historischen Verlust imperialer Bedeutung zum perpetuierten Politikum werden zu lassen ist kleinmütig peinlich u. historisch entlarvend. Latent tradierter reaktionärer und nationalistisch fundierter Revanchismus lautet der Vorwurf gegen die Autokratie in Ankara. Laizismus und Demokratie, leider verloren.



    *Völkermord als Verbrechen gegen die Menschheit



    **Geheimrede Hitler vor Oberkommandierenden 22.08.1939

  • Zitat: "(...) Die Türkei als Rechtsnachfolger des Osmanischen Reiches bestreitet, dass es 1915/16 einen systematischen Völkermord gegeben hat, und verweigert Entschädigungen und erst recht Rückgabe von Land oder gar ein Abtreten „Westarmeniens“ an den heutigen Staat Armenien."



    _______

    Für "Entschädigungen" durch die heutige Türkei gibt es keinerlei rechtliche Grundlagen. Zumal heutige Türken im Jahr 2021 ja nun wirklich keine Schuld tragen an dem, was im Jahr 1915 geschehen ist. Anerkennen des Völkermordes: Ja. Bezahlen: Nein.

  • 0G
    06438 (Profil gelöscht)

    ""........................Am Ende steht dann vielleicht auch die Anerkennung des Völkermordes durch die Türkei.""



    ==



    Gespräche von Erdogan mit Vertretern der EU haben kürzlich stattgefunden - es wird sich im Juni entscheiden ob die Bedingungen mittels Zollunion und sonstigen Handelserleichterungen mit der Türkei tatsächlich verbessert werden.

    Die Türkei ist derart wirtschaftlich angeschlagen sodas der Sultan Angebote, die an Bedingungen geknüpft sind, derzeit kaum ablehnen kann zumal es eine Reihe von Indizien gibt die zeigen, dass sich die türkisch - russischen Beziehungen derzeit merklich abkühlen.

    Dass nun Joe Biden das Massaker an den Armeniern durch die Jungtürken des Osmanischen Reiches anlässlich des 105. Jahrestages als Völkermord anerkennt, ist deswegen bereits ein diplomatischer Erfolg weil Erdogan selbst darauf - zumindest bislang - nicht geantwortet hat.

    Das war an den letzten Jahrestagen des Völkermordes an den Armeniern in den letzten Jahres anders.

    Tauwetter in den europäisch - türkischen Beziehungen? - mit Joe Biden als Stürmer links außen, der den Druck auf den Sultan erhöht?

    Baerbock hat angekündigt die Beziehungen zur Türkei neu verhandeln zu wollen. Das wird nur möglich sein wenn es jetzt gelingt die Beziehungen zu verbessern.

  • Die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern ist auf jeden Fall eine gute Nachricht.

  • 8G
    82286 (Profil gelöscht)

    "Die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, wie unklug es war, von der Türkei als Vorbedingung für den Dialog zunächst die Anerkennung des Völkermordes zu fordern, auch wenn das moralisch verständlich ist."



    Was, bitteschön, ist daran unklug ?



    Und was für einen Dialog?



    Und wen hat das überhaupt wirklich interessiert (außer den Betroffenen natürlich).



    Weder Deutschland, noch die EU, noch die USA haben irgend ein Geschäft von diesem Zugeständnis abhängig gemacht. Einige Aufrechte gab und gibt es wohl, auch in den USA.



    Aber jetzt passiert etwas, wovor sich die Bundesregierung ja gedrückt hat, als die den Parlamentsbeschluß quasi als Meinungsäußerung abgetan hat. Und jetzt verlangt der Präsident der USA von Erdogan den Völkermord anzuerkennen. Inzwischen möchte man bei uns wirklich an Marionetten glauben. Überhaupt keinen Arsch in der Hose. Angst vor dem eigenen Innenminister, Angst vor einer 8-Prozent-Chaos-Truppe. Lusch*innen.



    Und nur, weil Armenien jetzt nicht gleich die halbe Türkei zugesprochen wurde, hat das keine Konsequenzen? Oh man, Herr Gottschlich. Als Auslandskorrespondet sollten Sie so viel Erfahrung mitbringen um zu erkennen, daß die Aussage Biden's eine ganz, ganz dicke Betonwand ist.

  • Zumindest ein pragmatischer Ansatz, auf den freien Grenzverkehr zwischen der Türkei und Armenien zu setzen, trotz oder wegen der Demütigung in Bergkarabach ein Schritt, vom dem die Menschen in der Region wirtschaftlich tatsächlich profitieren könnten ... hoffentlich erkennt man das auch in Armenien, denn auf die Anerkenntnis der Armenierpogrome im Ersten Weltkrieg als Genozid durch die türkische Seite können die Armenier noch lange warten.



    Da ist sich die Opposition im türkischen Parlament mit Erdogans AKP übrigens einig, mit Ausnahme vielleicht der von Verbot bedrohten HDP.