Vizekusen wird Meisterkusen: Im ungebremsten Glücksrausch
Bayer Leverkusen ist schon fünf Spieltage vor Saisonende Deutscher Fußballmeister. Diese fabelhafte Mannschaft strahlt einen besonderen Zauber aus.
Um 18:48 Uhr fiel die Last der Geschichte endgültig von den Schultern der Menschen in der BayArena. Ein fabelhafter Fernschuss von Granit Xhaka flog zum 2:0 gegen Werder Bremen ins Tor vor der Nordkurve, manche Leute brüllten einfach nur, manche weinten, jetzt zweifelten nur noch Verrückte daran, dass die Werkself an diesem Tag den Bundesligatitel gewinnen würde. „Deutscher Meister wird nur der SVB“, sang das Stadion, und als Florian Wirtz nicht nur das dritte, sondern kurz darauf auch noch das 4:0 und das 5:0 geschossen hatte, brachen zweimal alle Dämme.
Zweimal stürmten Leute den Rasen in jener 82. und in der 90. Minute. Kurz war unklar, ob die Partie fortgesetzt werden kann, bis der Schiedsrichter Harm Osmers die Partie klugerweise nach genau 90 Minuten und damit viel zu früh beendete.
Der ewige Zweite hat sein Trauma überwunden, das hässliche Etikett „Vizekusen“ ist mit diesem 5:0 gegen die Bremer für immer im Schredder der Geschichte verschwunden und der FC Bayern hat nach elf Meisterschaften in Folge endlich einen würdigen Nachfolger gefunden. Es war ein Tag in Leverkusen, den die Leute nicht so schnell vergessen werden, und an dem schon lange vor dem Anpfiff eine sehr spezielle Energie über der Stadt lag.
Die Straßenzüge waren in den Vereinsfarben geschmückt, an vielen Stellen stieg rot-schwarzer Pyrotechnik-Nebel auf, der Mannschaftsbus wurde empfangen wie ein griechischer Überraschungsmeister. Und am Ende feierten sie einen Erfolg in einem Spiel, in dem Xabi Alonso wieder einmal unter Beweis gestellt hat, was für ein gewiefter Trainer er ist. Das jedenfalls suggerierte seine Aufstellung an diesem großen Abend.
Überraschender Winkelzug
In den allermeisten Phasen der Saison hatte er in der Bundesliga verlässlich seine allerstärkste Startelf nominiert und die Kräfte der wichtigsten Akteure eher in den Pokalwettbewerben geschont. Nun jedoch setzte der Trainer Florian Wirtz, Alejandro Grimaldo und Jeremie Frimpong zunächst auf die Bank. Wohl, weil die Sache mit der Meisterschaft in den Augen aller vernünftigen Menschen ohnehin nicht mehr schiefgehen konnte. Und weil eben am Donnerstag das komplizierte Europa-League-Rückspiel bei West Ham United ansteht, wo eine Niederlage ungleich schmerzlichere Folgen hätte. Aber wie alles, was Alonso tut, funktionierte auch dieser Winkelzug.
Nach 25 Minuten ging die Werkself durch einen Elfmeter von Victor Boniface mit 1:0 in Führung, hinten half manchmal auch etwas Glück, bis Xhaka und Wirtz mit ihren Toren jeden Zweifel aus der Welt schafften und endgültig zu Legenden dieses Klubs wurden. Denn ohne Frage ist die Meisterschaft ungeachtet der Chancen auf den Pokalsieg und den Gewinn der Europa League der wichtigste Titel in diesem unglaublichen Erfolgsjahr.
Den DFB-Pokal (1993) sowie die Europa League, die damals noch Uefa-Cup hieß (1988), hat Leverkusen bereits gewonnen. Das berühmte „Vizekusen“-Trauma ist daher zuallererst mit der Bundesliga verbunden, jetzt haben sie ihren großen Sehnsuchtstitel. Die finsteren Bilder aus der Vergangenheit haben damit ihren Schrecken verloren. Denn die laufende Saison kann Spieljahr als spektakulärer Gegenentwurf zu allem gelten, was früher war.
Das Team war zwar in den meisten Jahren gut genug, um sich für einen europäischen Wettbewerb zu qualifizieren, für mehr jedoch fehle der letzte Hunger, hieß es. Unterm Bayer-Kreuz neige man zur Bequemlichkeit, auch intern haben sie das irgendwann geglaubt, wie Beteiligte im Hintergrundgespräch bestätigen. Diese Schwäche ist überwunden, was diesen Erfolg besonders wertvoll erscheinen lässt. „Alle fühlen sich gut, jeder liebt den Coach. Seitdem er hier ist, hat er Leverkusen verändert“, sagte Frimpong vor einiger Zeit, während Alonso seine Spieler regelmäßig dafür lobte, besonders „hungrig“ zu sein.
Neue Fans in der Nachbarschaft
Mit dem Sieg gegen Bremen sind die Leverkusener nun seit 43 Pflichtspielen ungeschlagen, von allen Klubs aus Europas großen Ligen hat zuvor nur Juventus Turin eine vergleichbare Serie hinbekommen (ebenfalls 43 in der Saison 2011/2012). Und plötzlich fliegen dem ewigen Verliererklub aus der kleinen 170.000 Einwohner-Stadt, wo die Chemieindustrie den Alltag prägt und der umstrittene Bayer-Konzern sitzt, die Herzen zu. Selbst in der Nachbarstadt Köln, wo der heimische Effzeh trotz ausbleibender Erfolge wegen der Fußballleidenschaft seiner Anhänger Jahrzehnte lang attraktiver erschien, bezeichnen sich plötzlich überall Kinder als Leverkusen-Fans.
Die alten Antipathien werden einfach vom Zauber dieser fabelhaften Mannschaft und seiner brillanten Spieler überstrahlt. Xhaka, Grimaldo, Frimpong, Tah, sie alle werden als Helden erinnert werden, es ist geradezu magisch. Zumal auch noch dieser echte Zauberer im Team unterwegs ist: Florian Wirtz.
Der 20 Jahre alte Mittelfeldspieler, sei ein „Genie“, sagt Alonso, und man könnte an dieser Stelle etliche andere Superlative nennen, Fakt bleibt: Alles deutet darauf hin, dass hier ein Fußballer heranreift, der während des nächsten Jahrzehnts der Kategorie „Weltklasse“ angehören wird.
Vorerst steht aber die Frage im Raum, was dieser frühzeitig vollendete Meistertitel ganz kurzfristig mit dem Team macht. Sprinten sie einfach weiter bis zum Triple? Oder fällt die Spannung doch ein wenig ab nach diesem Coup? Ausschweifend feiern werden die Leverkusener jedenfalls nur an diesem einen Abend, denn am Donnerstag in London gegen West Ham United soll dieser lange, lange Glücksrausch am besten ungebremst weiter gehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Umwälzungen in Syrien
Aufstieg und Fall der Familie Assad
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“