Visumfrei von Kiew nach Berlin: Ласкаво просимо в Берлін
Herzlich willkommen in Berlin: Ab Sonntag dürfen ukrainische Staatsbürger ohne Visum in die EU reisen. Die Berliner Ukrainerinnen und Ukrainer freuen sich.
Jetzt ist es konkret
„Das ist das Ereignis, auf das wir alle gewartet haben. Ich hab schon vor Jahren einen Song geschrieben, der hieß ‚Visa free‘. Als ich noch meinen ukrainischen Pass hatte, hätte ich mir nichts lieber als das gewünscht. Ich hab ja am eigenen Beispiel gespürt, was es heißt, bei Konzerten für jedes Land ein Visum beantragen zu müssen. Das kostet Nerven und Zeit und Geld.
Seit 2005 dürfen EU-Bürger ohne Visum in die Ukraine reisen, zwölf Jahre später öffnet die EU nun die Tür für den visafreien Reiseverkehr mit der Ukraine.
Ab dem 11. Juni dürfen alle Ukrainerinnen und Ukrainer als Touristen für 90 Tage in die EU und damit auch nach Deutschland und Berlin reisen. Voraussetzung ist ein biometrischer Pass. Den haben derzeit etwas mehr als 3 der 43 Millionen Einwohner des Landes. Wer in der EU arbeiten oder sich medizinisch behandeln lassen will, braucht weiterhin ein Visum.
Der Weg zur Abschaffung der Visapflicht begann mit den Massenprotesten auf dem Maidan und der Demokratisierung des Landes 2014. Damals nahmen Kiew und Brüssel Verhandlungen über die „Liberalisierung des Visa-Regimes“ auf. Am 6. April dieses Jahres gab das Europäische Parlament schließlich grünes Licht für eine Abschaffung der Visumspflicht. Vorausgegangen waren die Einführung unter anderem einer Antikorruptionsbehörde durch die Regierung in Kiew. Brüssel und Kiew schlossen auch ein Rückübernahmeabkommen für Personen, die länger als 90 Tage in der EU bleiben.
Für die knapp 10.000 Ukrainerinnen und Ukrainer in Berlin bedeutet die Visafreiheit, dass ihre Bekannten und Verwandten nun nicht mehr nach Kiew in die Deutsche Botschaft müssen, um nach Berlin oder Deutschland zu reisen.
Unterdessen haben am Dienstag Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) und das Kiewer Stadtoberhaupt Vitali Klitschko eine Vereinbarung über mehr Zusammenarbeit zwischen den beiden Hauptstädten unterzeichnet. Müller versprach, sich künftig für günstige Direktflüge zwischen beiden Städten einzusetzen.
Die Leute haben auf dem Maidan auch für die Reisefreiheit gestanden. Jetzt ist es konkret. Ich glaube nicht, dass das zu einem großen Anstieg der Arbeitsmigration führen wird. Da ist Polen viel näher. Und diejenigen, die schon in Berlin arbeiten wollten, sind hier. Die sind eben mit Visum eingereist. Aber jetzt ist es natürlich einfacher und günstiger.“
Yuriy Gurshy ist Musiker und wurde in Charkiw geboren
Unser Lebensstil
„Ich bin auf der Krim geboren und 1993 das erste Mal nach Deutschland gekommen. Ich weiß, was es heißt, alle Unterlagen für ein Visum zusammenzubekommen. Obwohl ich inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft habe, freue ich mich sehr für meine Landsleute. Gerade für die jüngere Generation und für zivilgesellschaftliche Aktivisten gehört es ja zum Lebensstil, zu reisen, sich zu treffen, gemeinsame Projekte zu machen. Dafür ist die visafreie Reisemöglichkeit großartig, weil sie auch spontane Reisen erlaubt. Zuvor musste man erst nach Kiew in die Deutsche Botschaft, um ein Visum zu beantragen.
Gibt es eine ukrainische Community in Berlin? Nein, sagen meine paar ukrainischen Freunde und Bekannten. Kein Kulturhaus. Keine Bars. Keine Restaurants. Obwohl, es gibt das „Odessa Mama“, Nähe Innsbrucker Platz. Aber da streiten sie dann auch wieder. Warum man immer wieder nur über dieses eine Restaurant rede, das sei doch schon ein Zeichen für das Fehlen einer ukrainischen Community. Andererseits zählt das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg über 9.800 Ukrainerinnen und Ukrainer in Berlin. Die müssen doch wenigstens manchmal auch etwas zusammen machen.
Machen sie ja auch.
Der Maidan, die „Revolution der Würde“ 2014 in der Ukraine, hat das Leben vieler Ukrainer in Berlin verändert. Das Bedürfnis, sich zu verbinden, ist größer geworden. Manche suchen einfach mehr nach ukrainischen Freunden. Die fragen sie dann vielleicht in der Facebookgruppe „Ukrainians in Berlin“ nach guten Ärzten und Handwerkern. Sie treffen sich auf Konzerten. Bei „Okean Elzy“, der berühmtesten ukrainischen Band, waren im Februar auch solche, die mit Poprock wenig anfangen können. Und zu dem ethno-angehauchten Gesang von „Dakha Brakha“ am nächsten Dienstag im Festsaal Kreuzberg werden auch einige kommen, die finden, das sei keine ukrainische Musik mehr, sondern westlich angepasster Seichtschmarrn.
Andere kochen Marmelade oder fahren zum Zelten an brandenburgische Seen. Sie zeigen ukrainische Filme in der Brotfabrik. Oder gründen gleich Vereine wie die Ukraine-Hilfe und kul’tura. Sie sammeln Geld, damit sich 19 Kinder aus der Frontstadt Awdijiwka gerade bei Potsdam zwei Wochen erholen können. Sie laden Pianisten und Maler nach Berlin ein.
Was die UkrainerInnen in Berlin bisher von den fast 100.000 offiziell gezählten Türken und den über 50.000 Polen in Berlin unterscheidet, ist vor allem die Sichtbarkeit. Es gibt keinen Ort, wo man – abgesehen von der Botschaft – auf jeden Fall Ukrainer trifft. Ein ukrainisches Kulturzentrum sei aber ernsthaft geplant, sagen Aktive in Berlin. Die Politiker in der Ukraine würden langsam erkennen, wie nötig es sei, zeitgenössische Kultur und Kunst in Deutschland, in Berlin zu zeigen. Bisschen schneller wäre gut.
Vielleicht entdecken auch mehr Berliner und Deutsche die Ukraine. Als 2005 der Visazwang für Deutsche in die Ukraine abgeschafft wurde, sind viele zum ersten Mal in dieses Land gefahren.“
Yuliya Erner ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet beim Deutsch-Russischen Austausch.
Lange Zeit unerwünscht
„Das Visum stellte für mich immer eine bürokratische und psychologische Hürde dar. Die Vorbereitungen nahmen mindestens eine Woche in Anspruch, es folgten stundenlanges Schlangestehen und dann noch eine Woche für die Antragsbearbeitung. Dazu kamen die Gebühren, die für ukrainische Verhältnisse recht hoch waren – 35 Euro für das Visum und 20 Euro für die Leistungen des Visumbüros. Viele Ukrainer gaben noch vor dem Antragsverfahren auf. Die Europäische Union war gefühlt unerreichbares Gebiet, obwohl mit Polen, Ungarn, der Slowakei und Rumänien vier unserer direkten Nachbarländer Mitglieder der EU sind.
Ich erinnere mich an meinen ersten Visaantrag. Ich war 18 Jahre alt und wollte in Düsseldorf einen Sprachkurs absolvieren, den ich sogar schon bezahlt hatte. Mein Antrag wurde abgelehnt. Ich habe das Visum am Ende aber doch erhalten. Dennoch konnte man sich damals leicht als unerwünschter Gast in Europa fühlen.“
Anna Chepizhko ist Stipendiatin des diesjährigen IPS-Programms des Deutschen Bundestages.
Gemischte Gefühle
„Ins Flugzeug steigen und einfach nach Berlin, Paris oder Warschau fliegen. Das ist toll. So lange haben Ukrainer auf diese Entscheidung gewartet, dass sie fürchten, die EU könne es sich im letzten Moment noch anders überlegen.
Gleichzeitig sehe ich im Fernsehen in Kiew, dass eine andere Debatte wieder hochkommt: das Visa-Regime mit Russland. Bis heute können russische Staatsbürger ohne Visum in die Ukraine einreisen. Nun hat die Regierung einen Gesetzentwurf vorbereitet, der das ändern soll. Einerseits denke ich, es ist naheliegend, ein Visa-Regime mit dem Land einzuführen, von dem man attackiert wird. Und doch werde ich das Gefühl nicht los, als würde mir damit das Stück Freiheit, das ich gerade bei der EU gewonnen habe, wieder weggenommen. Viele Ukrainer haben Verwandte in Russland, Freunde, die sie regelmäßig besuchen – auch ich. Sollte die Ukraine tatsächlich die Visapflicht für Russland einführen, würde der Kreml das Gleiche tun. Die Verlierer werden jene Ukrainer sein, die weiterhin in Russland ihr Geld verdienen und dort Angehörige haben.“
Inga Pylypchuk ist Journalistin und Kolumnistin
Bild der Ukraine ändert sich
„Um ehrlich zu sein, fehlt es mir noch schwer zu glauben, dass es wahr ist. Die Visafreiheit gibt uns jetzt die Möglichkeit, auch kurzfristiger und spontaner zu reisen. Großartig!
Was die ukrainische Community in Berlin betrifft, gibt es eine Gruppe von Leuten, die sich ehrenamtlich für die Menschen in der Ukraine einsetzten. Andere entwickeln Projekte zur Förderung der Zivilgesellschaft und von Good Governance. Viele meine Freunde waren schon in der Ukraine und sind sehr begeistert. Ich denke, je offener die EU gegenüber der Ukraine ist, desto mehr Anziehungskraft wird sie haben.“
Nataliya Pryhornytska ist Masterstudentin an der FU Berlin
Gut für Integration
„Die Visafreiheit für die Ukraine ist ein wichtiger Faktor der ukrainischen Integration in die EU. Auch in Berlin. Hier gibt es viele Initiativen, einige organisieren Kulturveranstaltungen, andere sammeln Geld und organisieren Sommercamps für die Kinder aus der Ostukraine, wiederum andere zeigen ukrainisches Kino in Berlin. Ich denke, es wäre gut, wenn alle Initiativen mehr zusammenarbeiten. Während des Euromaidan hat die Community ihre Kraft und ihren Zusammenhalt schon gut gezeigt, sodass es für diese neue Vereinigung in kurzer Zeit gute Aussichten gibt.“ Oleksandra Gnyp ist Stipendiatin des DAAD
Das reicht nicht
„Diese visafreie Geschichte ist ein wichtiges Zeichen. Gleichzeitig werden jetzt Grenzübertritte schwerer. Und zwar für Rentner, Studenten, einfache Arbeiter, für alle, die nicht fliegen können, weil es zu teuer ist. Wir haben heute sechs Stunden mit dem Bus an der ukrainisch-polnischen Grenze gestanden. Die Menschen haben mir berichtet, es sei schlechter geworden, als es hieß, jetzt käme die Visafreiheit. Das muss sich ändern, es muss mehr Personal her.“
Oleksandra Bienert ist Koordinatorin der Menschenrechtsinitiative Pravo
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“