Vietnamesischer Dissident: Nguyen Van Dai wird Hanoi zu kritisch
Die vietnamesische Regierung ließ ihren schärfsten Kritiker einst nach Berlin ausreisen, um ihn loszuwerden. Jetzt sucht sie ihn. Wer ist der Mann?
Er ist das Gesicht der vietnamesischen Opposition und wird nun per Haftbefehl gesucht: Nguyen Van Dai, 56 Jahre alt, ein kleiner, unscheinbarer Mann – und Mitgründer der „Bruderschaft für Demokratie“, eines Netzwerks von Vietnamesen im In- und Ausland, die sich für den Übergang des Einparteienstaates zu einer parlamentarischen Demokratie einsetzen. Seit 2018 wohnt der Rechtsanwalt, der in Vietnam politisch verfolgte Menschen, christliche Aktivisten und unabhängige Gewerkschaftler vertreten hat und dafür mehrfach inhaftiert wurde, in Hessen.
Dass er 2018 nach Deutschland ausreisen durfte, obwohl er seine 15-jährige Haftstrafe wegen „Aktivitäten mit dem Ziel des Sturzes der Volksregierung“ noch nicht vollständig abgesessen hatte, kam nicht von ungefähr. Ein Jahr zuvor hatte der vietnamesische Geheimdienst völkerrechtswidrig den nach Deutschland geflohenen abtrünnigen Wirtschaftsfunktionärs Trinh Xuan Thanh direkt aus Berlin nach Hanoi entführt. Die deutsch-vietnamesischen Beziehungen lagen am Boden.
Als Geste des guten Willens gegenüber der Bundesregierung ließ Vietnam denjenigen politischen Gefangenen frei, dessen Freilassung demokratische Staaten und Menschenrechtsorganisationen am lautesten gefordert hatten: Nguyen Van Dai. Vietnam hatte mit der Freilassung sein Ziel erreicht: Die zwischenstaatlichen Beziehungen kehrten weitgehend auf Normal zurück.
„Verhinderung subversiver Aktivitäten aus dem Ausland“
Doch das scheint der Regierung in Hanoi nun nicht mehr so wichtig zu sein. Im November hat sie einen Haftbefehl gegen den Mann erlassen, der sich von Deutschland aus exilpolitisch betätigte. Sie wirft ihm „Herstellung, Speicherung, Verbreitung oder Weitergabe von Informationen, Dokumenten und Gegenständen gegen die Sozialistische Republik Vietnam“ vor, berichten zahlreiche staatliche vietnamesische Medien.
Der Haftbefehl sei „eine rechtmäßige und notwendige Maßnahme zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Abschreckung und Verhinderung subversiver Aktivitäten aus dem Ausland“, heißt es dort. Ob Hanoi von Berlin die Auslieferung von Nguyen Van Dai fordert und ob er über Interpol gesucht wird, ist nicht bekannt. Das Bundesjustizministerium gibt der taz dazu keine Auskunft.
Doch es ist nicht damit zu rechnen, dass Deutschland einen einst aus vietnamesischer Haft freigehandelten Mann, der hier anerkannter Asylberechtigter ist, an seinen Verfolgerstaat ausliefert. Im Gegenteil: Der Haftbefehl dürfte einiges an zwischenstaatlichen Debatten auslösen. Für Nguyen Van Dai würde eine Auslandsreise nun das Risiko der Inhaftierung und Auslieferung nach Vietnam mit sich bringen.
Nguyen Van Dai, so schreiben staatliche Medien in Vietnam, „organisiert Netzwerke, schult, mobilisiert finanzielle Mittel und betreibt Diplomatie mit dem Ziel, Pluralismus und ein Mehrparteiensystem durchzusetzen und die vietnamesische Regierung zu stürzen“. Die Anklage gegen ihn sowie gegen zwei weitere in Deutschland lebende vietnamesische Dissidenten, den Journalisten Trung Khoa Le und die Demokratieaktivistin Nhu Hue, stellten „einen wichtigen Meilenstein dar“ für die Strafverfolgung von Menschen im Ausland, „deren Aktivitäten sich gegen den Staat richten“ sowie für „die Identifizierung und Bekämpfung neuer Formen staatsfeindlicher Aktivitäten im digitalen Zeitalter“.
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