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Vier Sprachen, vier Welten

■ Ein eindrucksvolles Dokument aus dem Getto Lódź: Die „Notizen am Rande“ sind ein anonymes, kunstvolles Tagebuch

„Obwohl ich ein gebrochenes und zweifelhaftes Hebräisch schreibe, kann ich nicht anders, als hebräisch zu schreiben, weil Hebräisch die Sprache der Zukunft ist, weil mit der hebräischen Sprache (unleserlich, vermutlich: ich leben kann) als ein Jude mit erhobenem Kopf in Erez Israel.“ Viermal wird die Sprache angerufen, in einem einzigen Satz. Hebräisch ist die Sprache der Hoffnung – in einem Text, der im Wechsel auch jiddisch, polnisch und englisch niedergeschrieben wurde. Geschrieben vom 5. Mai bis zum 3. August 1944 im Getto Lódź, von einem jungen, unbekannten Mann, auf die letzten Seiten und auf die Ränder eines französischen Romans „Les Vrais Riches“. Das „Tagebuch“, gefunden in Auschwitz, liegt im Archiv der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Hanno Loewy und Andrzej Bodek haben es übersetzen lassen, mit einem kundigen Nachwort versehen und im Faksimile abgedruckt.

Denn nichts, kein Wort, keine Erläuterung, keine Rekonstruktion der historischen Umstände, kann den Eindruck dieser Blätter ersetzen: Die Schrift in der Schrift. Die vorderen leeren Seiten wurden englisch und polnisch gefüllt, die hinteren, in der anderen Richtung, hebräisch und jiddisch. Auch zwischen den Zeilen des Romans von François Coppée und um die Bilder herum läuft der Text.

Vier Sprachen, vier Welten. Im Hebräischen wird von Israel gesprochen, von der Zukunft. Polnisch ist die Sprache für das Lebensthema der materiellen Versorgung. Englisch sind die Nachrichten als Verbindung zur Welt. Und jiddisch? „Ich schäme mich, wenn ich daran zurückdenke, daß ich bis vor kurzem die jiddische Sprache verachtet habe. Aber ob ich will oder nicht, es ist die Sprache meines Vaters und meines Urgroßvaters, meiner Mutter und meiner Urgroßmutter. Deswegen muß ich es lieben, muß ich es pflegen.“ So gilt das Jiddische den Träumen, den Gefühlen und der Zeit vor der Einrichtung des Gettos. Aber diese Einteilung ist grob. Die Wahl der Sprache ist – wie alles, was der Autor erlebt und notiert – von der Lebenssituation im Getto bestimmt, vom Kampf um das Essen, von der Sorge um die kleine Schwester, der Herrschaft der Deutschen.

Das Getto Lódź wurde im April 1940 als erstes geschlossenes „jüdisches Wohngebiet“ im besetzten Polen eingerichtet. Vorsitzender des „Judenrates“, „Judenältester“, wird Mordechai Chaim Rumkowski. Seine Funktion, sein Schicksal als „eine der schillerndsten und widersprüchlichsten Gestalten der Shoah“ (Loewy/Bodek) war Gegenstand zahlreicher Untersuchungen: Um auf die Rettung von Leben hoffen zu können, mußte der „Judenälteste“ Leben opfern – die Logik der Selektion wurde von der Rampe in Auschwitz bis ins Getto verlängert. Rumkowski war zuvor Direktor eines Waisenhauses. Er versuchte bis zuletzt, für die Kinder und Jugendlichen im Getto zu sorgen – aber er war es auch, der im September 1941 die Kinder unter zehn Jahren „preisgegeben“ hat. Es ist möglich – eine Eintragung in dem Tagebuch deutet darauf hin –, daß der Verfasser der „Notizen am Rande“ in der Nähe des Judenältesten gelebt oder gearbeitet hat.

Der Autor „versteht nicht“, warum das alles geschieht. Er stellt die Frage nach den Mördern: „Oh Gott am Himmel, warum hast Du die Deutschen geschaffen, damit sie die Menschheit zerstören?“ Und: „Ist es nicht beschämend, als ein Mann auf derselben Erde zu leben wie deutsche Männer?“

Daniel Goldhagen hat mit seinem Buch zuletzt dazu beigetragen, daß wieder über die Deutschen geredet wird. Das ist aus wissenschaftlicher Sicht kritisierbar, die „Ethnisierung“ der Schuldzuschreibung wurde zu Recht in Frage gestellt. Aus der Sicht des unbekannten Autors wirkt diese Debatte absurd. Vielleicht ist es wirklich so, daß manche Forschungen über den Mord an den europäischen Juden in ihrer Darstellung zu kalt und technizistisch waren. Der abstrakte Begriff des Holocaust, die akribische wissenschaftliche Forschung, das rituelle Gedenken, so verdienstvoll sie sind, rücken das Geschehen in weite Ferne. Die „Notizen am Rande“ bringen es von dort wieder zurück. Joachim Schlör

„Les Vrais Riches. Notizen am Rande. Ein Tagebuch aus dem Getto Lódź“. Herausgegeben von Hanno Loewy und Andrzej Bodek. Schriftenreihe des Fritz-Bauer-Instituts, Band 13. Reclam Verlag, Leipzig 1997, 165 S., 18 DM

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