Videopionier Gerd Conradt: Unter dem Radar fliegen
Der Regisseur Gerd Conradt filmte seinerzeit gegen geplante „Sanierungen“ in Berlin-Charlottenburg an. Seine Arbeiten werden jetzt wieder gezeigt.
Das Jahr 1984 war für mich ein besonderes Jahr. Der Schriftsteller George Orwell hatte in seinem Roman „1984“ angekündigt, wir würden in diesem Jahr in einem totalitären Überwachungsstaat leben. Für mich kam es jedoch ganz anders. Ich erlebte eine Freiheit, die ich bis zu dem Zeitpunkt noch nicht kennengelernt hatte. Im ZDF wurde mein erster Film ausgestrahlt, ein „Kleines Fernsehspiel“ mit dem Titel „Der Videopionier“.
„Der Videopionier“ (1984), 9. 4.,19 Uhr, Divan, Nehringstraße Berlin
„Menschen und Steine“ (1998), 14. 4., 18 Uhr, Villa Oppenheim, Berlin
Ich war Fotograf und Kameramann. Nach den wilden Jahren um 1968, in denen ich mich als Kommunarde in großen, für Berlin so typischen Wohnungen erprobt hatte, war ich vier Jahre später in einer Zweizimmerwohnung mit Ofenheizung in einem Kiez in der Nähe vom Schloss Charlottenburg gelandet.
Zur selben Zeit war das Medium Video auf den Markt gekommen. Video, ich sehe, ich werde gesehen. Das bewegte Sofortbild. Nach der Aufnahme konnten die Bilder sofort gesehen, über Kabel auch verbreitet werden. Eine Revolution in der Medienwelt.
Proteste gegen Kahlschlagsanierung
In meiner neuen Heimat schloss ich mich einer Bürgerinitiative an, die gegen einen Plan protestierte, der vorsah, alte Häuser abzureißen und durch Neubauten zu ersetzen – wir nannten das „Kahlschlagsanierung“. Mein Geld verdiente ich als „Videolehrer“ an der Universität, und nach Feierabend dokumentierte ich unseren Protest im Kiez am Klausenerplatz.
Ich sammelte Beweise dafür, dass die geplante „Sanierung“ sich gegen die Interessen der Bewohner, mich und meine Nachbarn, richtete. Wir sollten in für uns gebaute Neubauviertel an den Stadtrand ziehen. Das Märkische Viertel und die Gropiusstadt sind die bekanntesten Namen für diese modernen Schlafstädte. Hohe Mieten – Infrastruktur und Verkehrsanbindung gleich null.
Als ich vom ZDF den Auftrag bekam, aus den von mir über zehn Jahre gesammelten Aufnahmen über unseren Protest eine Fernsehsendung zu gestalten, war aus dem gelernten Fotografen und Kameramann der Videopionier geworden.
Die Videoaufnahmen der ersten Generation waren schwarz-weiß und konnten mit den hochauflösenden bunten Fernsehbildern nicht konkurrieren. Um meinen Film für die große Fernsehöffentlichkeit attraktiv zu machen, erfand ich eine Figur, die nun – mit der neusten Technik in Farbe gedreht – durch den Film wandert, die Geschichten in meinen Dokumente verbindet.
Mann mit der Kamera
Dsiga Wertow, einen russischen Filmpionier, der 1929 den Stummfilm „Der Mann mit der Kamera“ gedreht hatte, erkor ich zu meinem Vorbild. In vielen kurzen Einstellungen erzählt er im erwähnten Film den Alltag einer Stadt. Zusätzlich erfährt man, wie dieser Film entsteht, sieht dem Kameramann und der Cutterin bei der Arbeit zu.
So etwas wollte ich auch machen. Darum schlüpfte ich in das Kostüm meines Vorbilds und zeigte meinem Publikum, wie mein Fernsehspiel entsteht. Dafür bekam ich Lob und Tadel; modern und mutig, sagten die einen, andere meinten, ich hätte die Chance, eine saubere Geschichte zu erzählen, vertan, und nannten den Film eine Kostümprobe.
Nun, nach fast vierzig Jahren, wird „Der Videopionier“ am Ort seiner Entstehung wieder gezeigt.
Mit unserer Mieterarbeit hatten wir Erfolg. Die Häuser stehen noch heute, und im Kiez leben die Menschen in guter Nachbarschaft. Ohne die aktive Unterstützung des Architekten und Stadtplaners Hardt-Waltherr Hämer hätten wir unsere Ziele jedoch nicht erreicht. Er war es, der unsere Forderung: „Verbleib im Kiez zu Mieten, die wir bezahlen können“, in fachliches Handeln umsetzte. Gustav, wie ihn alle nannten, gilt durch sein beispielhaftes Engagement im Kiez am Klausenerplatz als Erfinder der „behutsamen Stadterneuerung“. Sanierung, Gesundung – statt Abriss. Civitas, Bürgerschaft, neu denken, erproben, leben.
Bilder im Krieg
Fünfzehn Jahre nach der Ausstrahlung von „Der Videopionier“ kehrte ich zu meinen Protagonistinnen und Protagonisten von damals zurück, um nachzusehen, wie sich das Leben weiterhin ereignet hat, und drehte für den SFB, den Sender Freies Berlin, eine Fortsetzung mit dem Titel „Menschen und Steine“. Das Vergehen von Zeit wird am deutlichsten sichtbar in den Gesichtern von Menschen.
In „Menschen und Steine“ stand Gustav Hämer im Mittelpunkt. Bei den Dreharbeiten erfüllte ich ihm einen Herzenswunsch: einmal im Hubschrauber über Berlin zu kreisen, so auf die Stadt zu blicken, wie es ein Stadtplaner von Berufs wegen macht. Der Planer hat eine Draufsicht, er sieht die Stadt aus der Vogelperspektive.
Es ist Krieg! Was würde mein Vorbild Dsiga Wertow dazu sagen? Im Fernsehen sehe ich die Serie „Diener des Volkes“. Darin spielt der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski einen Geschichtslehrer mit radikaldemokratischen Ansichten. Seine Schulklasse sorgt dafür, dass er die anstehenden Wahlen gewinnt, um als Präsident das Land aus den Fesseln der Oligarchen zu befreien. In seiner Rolle als Präsident erleben wir, wie er sich gegen alle Widerstände für direkte Demokratie, Teilhabe der Ukrainer am Reichtum des Landes, für freie Universitäten, das Recht auf Volksabstimmungen einsetzt.
Aus heutiger Sicht kann diese Fernsehserie als eine direkte Kampfansage an Putin verstanden werden. Putin fürchtet nichts mehr als ein Land, in dem Demokratie und Verteilung des Reichtums Wirklichkeit sind. Solch ein Staat, in dem fast alle Menschen Russisch sprechen, viele Familien Verwandte in Russland haben – das russische Volk unmittelbare Vergleichsmöglichkeiten hat zwischen dem Leben in Russland und der sich entwickelnden Demokratie in der Ukraine, kann Putin nicht gefallen. Die Regierung eines solchen Staates muss aus seiner Sicht vernichtet werden.
Diese Serie ist in der Mediengeschichte ein Novum. Hat es je einen solchen direkten Zusammenhang zwischen Fiktion und Realität gegeben?
Utopie für den Kiez?
Meine Filme sind auch Versprechungen: Direkte Demokratie ist möglich. Allerdings war es schon immer so: Mieter und Hausbesitzer sind nicht unbedingt beste Freunde. Damals forderten wir, die Wohnungsmiete dürfe nicht mehr als 10 Prozent vom Lohn betragen, Nulltarif für den öffentlichen Nahverkehr und: Kleine Kinder brauchen kleine Klassen. Heute bezahlen Mieter oft 50 Prozent ihres Lohnes als Miete, ein Bus-, U-Bahn-Ticket kostet 3 Euro, und die Klassenstärke liegt offiziell bei 25 Kindern, Kindergärtner:innen und Lehrer:innen fehlen.
Was kann ich also nach den Vorführungen meiner Filme Hoffnungsvolles sagen? Habe ich eine Utopie für den Kiez am Klausenerplatz? Kann ich, so wie es der ukrainische Präsident für sein Land fordert, für direkte Demokratie, für eine Umverteilung des Reichtums, für sicheres Wohnen, gesicherte Bildung, Sicherheit im Alter werben?
Bin ich resigniert? Oder lebe ich in einem kaum zu beschreibenden Widerspruch? Für mehr Demokratie und Wohlstand für alle in Deutschland habe ich wenig Hoffnung, zu sehr wird unser Leben von den digitalen Weltkonzernen beherrscht. Gleichzeitig fühle ich mich in meinem Alltagsleben von Tag zu Tag wohler – vermutlich, weil ich gelernt habe, zwischen mir und meiner Umwelt, meiner Familie und der Wahlverwandtschaft ein feinmaschiges Netz von positiven Energien zu knüpfen, die jeden Tag lebenswert machen.
Heißt das, ich lebe im Hier und Jetzt? Also werde ich mit den Zuschauerinnen und Zuschauern meiner Filme so reden, dass wir uns trotz vieler Sorgen erfreut wahrnehmen, Gemeinsamkeiten entwickeln, jeder angeregt nach Hause geht. Gemeinsam mit den neu gefundenen Menschen unter dem Radar fliegen! Und Orwell?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu