Vertrieben in Syrien: Der Himmel über Idlib
Ali Abdallah ist halbseitig gelähmt, doch aufgeben will er nicht. Er züchtet Tauben. In den Lagern spendet die Aufzucht der Tiere den Menschen Trost.
M üdigkeit steht Ali Abdallah ins Gesicht geschrieben. Auf dem Kopf trägt der 28-Jährige eine Mütze. Eigentlich trägt Ali Abdallah einen anderen Namen, der aus Sicherheitsgründen hier aber nicht genannt werden soll. Seit sein Haus von russischen und syrischen Kampfflugzeugen bombardiert worden ist, steckt sein Körper wegen einer halbseitigen Lähmung in einem Rollstuhl.
Mit seiner Frau und den vier Kindern flüchtete er sich in ein Vertriebenenlager nahe Killi, in jene Gebieten der syrischen Provinz Idlib, die der syrische Präsident Baschar al-Assad bislang nicht zurückerobern konnte.
Doch Ali Abdallah ist optimistisch: „Wegen des Rollstuhls hat mein Leben ja nicht aufgehört“, sagt er. In dem Lager ist es ihm mittlerweile gelungen, Tauben aufzuziehen. Die Zucht der Vögel, so sagt er, passe zu seiner Verletzung. Aus dem Rollstuhl heraus pflegt er sie. Bei Sonnenaufgang und spät am Abend bei Sonnenuntergang kümmert er sich um die Tiere, verbringt viel Zeit mit ihnen, füttert sie und lässt sie für ihren täglichen Übungsflug frei.
Taubenhaltung spendet Trost und bringt ein wenig Geld
Unter den vertriebenen Syrern in den Lagern Idlibs ist das Hobby der Taubenhaltung weit verbreitet. Mit besonderer Sorgfalt ziehen sie die Vögel in Gruppen auf und trainieren sie, gemeinsam zu fliegen. Das Hobby bietet Abwechslung und spendet Trost in diesem vom Krieg zerrissenen Land. Vor allem unter den Männern ist die Taubenzucht beliebt. Einige sind ganz besessen von den Tieren, die ihnen in ihrem von Vertreibung geprägten Leben Halt geben.
Für viele Familien ist die Taubenhaltung aber auch Lebensgrundlage. „Das ist ein Unternehmen, das für mich und meine Familie Kapital generiert“, sagt Ali Abdallah. „Ich fotografiere die Vögel, die ich verkaufen möchte, und poste die Bilder in Whatsapp-Gruppen für Restaurantbesitzer und Taubenhändler“, erzählt er. „Wer das höchste Gebot macht, dem verkaufe ich meine Tauben.“ Die Nachfrage nach Taubenfleisch in Idlib ist hoch. Manche kaufen die Tiere auch für die eigene Küche zu Hause.
Zehn Kilometer nördlich der Provinzhauptstadt Idlib, in dem Dorf Ma’aret Misrin, treffen sich jeden Freitag die Händler und Züchter auf einem großen Vogelbasar. Auf einer Fläche von ein bis zwei Quadratkilometern werden Enten, Gänse, Hühner, Papageien, Wellensittiche und Tauben in Eisenkäfigen auf Motorrädern oder Pick-up-Trucks zur Schau gestellt. Wer kein Fahrzeug hat, das er als Marktstand nutzen kann, platziert seine Vögel einfach auf dem Boden. Auch die Vertriebenen in der Region stellen ihre Vögel auf dem Markt von Ma’aret Misrin aus.
Die Zahlen Syrien hat etwa 17 Millionen Einwohner. Mehr als 6 Millionen Menschen sind innerhalb des Landes vertrieben worden, darunter rund 2,5 Millionen Kinder.
Die Region Idlib Rebellenkämpfer und Oppositionelle samt Familien haben im Nordwesten des Landes Schutz gefunden. In dem Oppositionsgebiet, das Teile der Provinzen Idlib und Aleppo umfasst, leben rund 4 Millionen Menschen, 2,7 Millionen davon sind Vertriebene. Tausende wurden von der Regierung gezielt nach Idlib deportiert.
Die Lager 1,6 Millionen Menschen leben in Flüchtlingslagern, die von Hilfsorganisationen versorgt werden. Zuletzt fluteten erneut Regenfälle diese provisorischen Zeltlager.
Ankaras Einfluss In den Oppositionsgebieten Idlibs herrscht eine Gegenregierung, die als ziviler Arm der pragmatisch auftretenden Islamistenmiliz HTS gilt, welche aus der al-Qaida-nahen Nusra-Front hervorgegangen ist. Die Türkei arbeitet eng mit HTS zusammen, auch wenn sie die Miliz wie die USA und die Vereinten Nationen als Terrororganisation einstuft. Weiter nördlich, um die Stadt Afrin, ist Ankaras Einfluss direkter: Hier lässt sich von einer Militärbesatzung sprechen, seit die türkische Armee 2018 kurdische Kräfte vertrieben hat. (hag)
Die Käufer prüfen die Tauben und untersuchen sie auf Krankheiten. Sie schauen nach Wunden, Atemproblemen oder herabhängenden Flügeln. Jede Taube hat unterschiedliche Merkmale und Formen, nach denen sich ihr jeweiliger Wert bemisst. Die Preise seiner Vögel lägen meist zwischen umgerechnet 4 und 25 Euro, erzählt Ali Abdallah. Einige wenige Tiere auf dem Markt können aber bis zu 2.000 Euro bringen.
Die Furcht vor neuen Kämpfen
Bezahlt wird in Idlib und Umgebung nicht mit der syrischen Währung, sondern in türkischen Lira. Das hat Hai’at Tahrir al-Scham (HTS) vergangenen Sommer so verfügt, so lautet der Name jener Miliz, die die letzte Oppositionshochburg in Syrien mit türkischer Unterstützung kontrolliert und auch in den Vertriebenenlagern von Idlib das Sagen hat. Ein von der Türkei und Russland vereinbarter Waffenstillstand ist zwar verlängert worden und sorgt derzeit für eine relative Ruhe, doch die unsichere Situation bereitet den Menschen weiterhin Sorgen.
Viele Zivilisten erwarten neue Militäraktionen des Regimes, das immer wieder klargemacht hat, dass es alle Landesteile Syriens wieder unter seine Kontrolle bringen möchte. Obwohl die groß angelegte Offensive der Regierung und ihrer russischen Verbündeten auf Idlib im letzten Jahr weitgehend zum Stillstand gekommen ist, fliegen die Kampfjets nahe den Frontlinien östlich und südlich der Provinzhauptstadt weiter ihre Luftangriffe. Ständig sind im Himmel über Idlib russische und syrische Kampfflugzeuge zu sehen.
Muhammad al-Abrasch, Vertriebener aus dem Dorf Ma’aret al-Na’asan, direkt an der Frontlinie gelegen
Auch Muhammad al-Abrasch hat das Hobby der Taubenzucht für sich entdeckt. Während der Militärkampagne auf Idlib im letzten Jahr wurde er aus seinem Heimatdorf Ma’aret al-Na’asan vertrieben. Nun wohnt er in einem Lager nördlich des Dorfes Harbanusch im Norden Idlibs, wo er mehr als sechzig Tauben besitzt. „Nichts“, sagt er, „steht zwischen mir und meinen Tauben.“
Als sein Dorf bombardiert wurde, habe seine Familie die Vögel zurücklassen wollen. Sie wollten ja zurückzukehren, erzählt Muhammad. Doch er ahnte, dass eine Rückkehr unwahrscheinlich sein würde und wollte die Tauben nicht durch die Bomben sterben lassen. Also nahm er sie mit. „Ich habe mein Leben riskiert, um die Vögel da herauszuholen“, erinnert er sich.
Syriens Taubenzüchter wie Ali Abdallah und Muhammad al-Abrasch haben viele Bräuche und Traditionen, um die Tiere zu fangen und aufzuziehen, sie zu schmücken und zu pflegen. Die Vögel tragen Bänder und Kettchen an den Füßen, was ihnen beim Laufen und Fliegen einen schönen Klang verleiht. Vor dem Krieg gab es spezielle Vereinigungen für die Aufzucht von Tauben, in denen die Taubenhalter Trainingsmethoden austauschten und in Wettbewerben gegeneinander antraten. Doch nach ihrer Vertreibung existieren diese Verbände nicht mehr.
Um seinen Tauben auch in dem Lager Schutz und Komfort bieten zu können, hat Muhammad al-Abrasch neben dem Zelt seiner Familie drei Taubenschläge gebaut, in denen er die Tiere aufzieht.
Er hat sie mit einfachen Werkzeugen aus leeren Ölkanistern und anderen Gefäßen hergestellt. Die Tauben haben einen Bereich für die Fortpflanzung, einen für die Küken und einen Hauptbereich, in dem Muhammad die flugfähigen Tauben unterbringt. Für die Tiere, sagt er, fühle er sich verantwortlich wie für seine eigenen fünf Kinder.
Im Winter hält er die Tauben mit Decken warm und versucht, keinen einzigen Vogel zu verlieren.
Wenn einer der Vögel krank wird, sei es seine Aufgabe, Medikamente zu besorgen. Wenn er knapp bei Kasse ist, verkauft er den kranken Vogel für einen schlechten Preis. Je mehr man sich um die Vögel kümmert und je schöner sie sind, desto mehr Geld bringen sie ein.
Der Preis von Muhammad al-Abraschs Tauben liegt zwischen umgerechnet 15 und 25 Euro. Auf dem Markt in Ma’aret Misrin sind sie gefragt. Und weil die Lebensbedingungen in den Lagern schlecht sind und es kaum Arbeit gibt, ist die Taubenzucht auch für Muhammad al-Abrasch nicht nur ein Hobby, sondern sichert auch den Lebensunterhalt seiner Familie.
„Die meisten der Vögel, die ich züchte und verkaufe, sind von einer Art namens al-Zadschil“, sagt er. Diese Art, die Brieftaube, hat die Fähigkeit, auch aus weit entfernten Orten zu ihrem Heimatschlag zurückzukehren, wofür sie unter anderem das Magnetfeld der Erde als eine Art Kompass benutzt. In Idlib begleiten die Tauben die vertriebenen Syrer und teilen mit ihnen ihre Tragödien, die sie vom Himmel aus weit über den Lagern miterleben.
Seine Tauben anzusehen, erfülle ihn mit Zufriedenheit, sagt Muhammad al-Abrasch. Allein das Beobachten der Vögel empfindet er als tröstlich. Die Tauben wecken Erinnerungen an sein Dorf und sein Haus, das nur 15 Kilometer entfernt direkt an der Frontlinie liegt.
Ali Abdallah, Vertriebener und seit einem Luftangriff halbseitig gelähmt
Auch Ali Abdallah findet Trost in der Taubenzucht: „Ich fühle keine Verzweiflung“, sagt er. Mit seiner halbseitigen Lähmung sei er ein Vorbild für andere Verletzte. „Ich zeige ihnen, dass sie den Härten des Lebens nicht hilflos gegenüberstehen. Ich will selbst Geld verdienen, ohne dass meine Kinder auf mich herabsehen“, sagt er. Es scheint, als habe die Taubenzucht wieder Leben in den Himmel über Idlib gebracht, einen Himmel, aus dem sonst nur Bomben auf die Erde hinabfallen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen