Verschwundene Menschen in Mexiko: Das geheime Massengrab
Über 32.000 Menschen sind in Mexiko verschwunden, oft sind Beamte und Polizisten in die Verbrechen verstrickt. Die Mütter suchen selbst nach ihnen.
Hinter uns liegt eine Neubausiedlung mit blassbunten Fassaden am Nordrand der Stadt Veracruz, vor uns ein Schotterweg, gesäumt von Gebüsch und Zäunen. Nach wenigen Minuten erstreckt sich eine sandige Lichtung vor unseren Augen, ringsherum gerahmt von einer Anhöhe mit struppigem Wildwuchs, Wurzelgeflecht. Hier und da ragt ein kahler Baum in den Himmel. Ein idealer Ort.
Still ist es, Vögel zwitschern aus dem Unterholz, ein Geier krächzt von einer Baumkrone. Zu hören ist nur der Wind, mal als sanftes, mal als anschwellendes Rauschen. An den Rändern des sandigen Halbrunds schlängeln sich gelbe Absperrbänder am Boden, mal auch zwischen zwei Stäbe gespannt, escena del crimen steht darauf. Und erst ganz allmählich, als die Augen sich an das sirrende Licht gewöhnen, zeichnen sich die hellen Linien auf dem Grund ab, mit weißen Kordeln abgesteckte Rechtecke.
Sie markieren die Stellen, an denen Leichname und Körperteile aus der Erde geholt wurden: Manche aus über zwei Metern Tiefe, andere gerade einen halben Meter tief. „Wenn sie schneller fertig werden wollten“, wie Celia García, eine kräftige kleine Frau, beim Rundgang erklärt. In der größten Grube haben sie sechzehn Körper gefunden, in den meisten ein oder zwei. Mehr als 270 Tote wurden bis jetzt geborgen, fast alle in schwarze Müllsäcke gesteckt, auf einem Gelände, nicht größer als zwei Fußballfelder. „Ja, das ist wie Kino“, sagt García und breitet die Arme aus. „Aber es ist alles real.“
ist Kulturwissenschaftlerin und forscht zu Menschenrechtsforensik in Mexiko und Lateinamerika. Aktuell arbeitet sie zusammen mit Jan-Holger Hennies an einer Webdokumentation zu Geheimfriedhöfen in Veracruz und anderen Orten.
Diese Realität beginnt im Mai letzten Jahres, am Muttertag, den Frauen in Mexiko schon lange für Proteste nutzen. So auch in Veracruz, der Hafenstadt an der mexikanischen Golfküste: Ein paar Dutzend Frauen haben sich versammelt, fast alle sind Mütter von „Verschwundenen“. Zwei Männer, die keiner kennt, steigen aus einem Van und verteilen kopierte Zettel mit einer krakeligen Karte, wie von Kinderhand gezeichnet: ein paar Straßen, eine Abfahrt, rechts oben ein Fleck mit lauter kleinen Kreuzen. Daneben ein Pfeil: Cuerpos, Körper. „Ich sah das und wusste sofort, was das war“, sagt Lucia de los Ángeles.
Was es war: der Horror – und eine Hoffnung. Vor der schlanken Frau, die von allen Lucy genannt wird, hat sich damals ein schwarzer Schlund aufgetan. So muss es sich anfühlen, wenn einer verschwindet, vom Erdboden verschluckt.
Den staatlichen Ermittlern fehlt es an allem
An einem Julitag 2013 wurde ihr Sohn, ein bekannter DJ in Veracruz, aus seiner Wohnung entführt. „Du reagierst, als ob man einem Mann sagen würde, dass er schwanger ist: Das kann gar nicht sein.“ Es folgt die übliche Odyssee durch Krankenhäuser, Gefängnisse und Leichenschauhäuser. Endloses Warten. De los Ángeles wird klar, dass es den staatlichen Ermittlern „an allem“ fehlt, wie sie sagt: an Können und Personal, an Interesse und Entschlossenheit.
„Ich wusste, sie würden meinen Sohn nicht suchen.“ Sie trifft auf andere Verzweifelte, eine Gruppe wird gegründet, das Colectivo Solecito, kleine Sonne. Unerträglich am Verschwinden ist nicht nur die Lücke. Es ist die Ungewissheit, der Schwebezustand. Die Liebsten nicht mal tot zu wissen und begraben zu können: kein Körper, kein Abschied.
Der Anstoß zum selber suchen kam vom anderen Ende des Landes. Im südmexikanischen Guerrero zogen nach dem Verschwinden der 43 Studenten aus Ayotzinapa die ersten selbstorganisierten Suchbrigaden los und stießen tatsächlich auf Grabstellen. „Das müssen wir auch machen“, sagten die Frauen in Veracruz. Mundschutz und Schaufeln hatte man besorgt. Dann kam die Karte mit den Kreuzen.
Das Fleckchen Erde bei Colinas de Santa Fe, so heißt die Siedlung am Nordrand der Hafenstadt, ist das wohl größte geheime Massengrab in Mexiko, womöglich sogar in Lateinamerika. Die Mütter von Solecito haben die Grabungen nicht nur gefordert oder angestoßen – sie graben selbst. Am Anfang mit bloßen Händen. Am ersten Tag, im August letzten Jahres, kneteten sie an einer Stelle, wo vor Jahren schon etwas gefunden wurde, die Erde durch – und fanden sofort menschliche Knochen. Zuerst eine Rippe. Dann eine Kniescheibe. „Das war unbeschreiblich“, sagt de los Ángeles, die selten um Worte verlegen ist.
Seither kommen ein paar Frauen von Solecito jeden Tag her, immer von acht bis vier. Wenn brütende Hitze oder Regenfälle ihnen zusetzen, ist um zwei schon Schicht. Sie wechseln sich ab, „sonst wird man verrückt“, sagt sie. Ein paar Helfer wurden für die körperliche Schwerarbeit angeheuert, aus eigener Tasche. Zum Einsatz kommt eine von ersten Suchbrigaden entwickelte Technik, die García vorführt: An auffälligen Stellen, wo die Vegetation anders ist, rammen sie einen bis zu zwei Meter langen Metallstab, die varilla, in die Erde.
Wenn der Stab beim Rausziehen nach Fäulnis riecht, wird ein Schacht gegraben. Erst wenn man definitiv fündig geworden ist, treten die Männer von der polícia científica,die Wissenschaftspolizei, auf den Plan. Die kümmern sich dann um die fachgerechte Exhumierung der Körperteile.
Ein paar Uniformierte stiefeln über den weichen Sandboden. Polizisten waren von Anfang an dabei, als Geleitschutz und auch, um den Grabenden auf die Finger zu schauen. Inzwischen packen sie auch mal mit an. Meist warten sie jedoch in ihren Polizeiwagen oder flüchten vor der Sonne unter die Plastikplane mitten auf dem Feld.
Alles selber tun
Hier sitzen alle, matt von der Hitze, die gerade nicht mit Hacke und Machete zum Einsatz ins Unterholz gezogen sind. Aus dem Gebüsch ist das Rascheln der abgeschlagenen Zweige, das Klacken der Varilla zu hören. Gegen Mittag bringt ein Catering, so heißt es tatsächlich, Eintopf mit Reis und scharfer Soße. Polizisten, Gräber und Mütter setzen sich mit Plastiktellern an einen wackeligen Tisch. Man reißt Witze, die Frauen lachen, aus einem kleinen Lautsprecher scheppert Mariachi, mexikanische Volksmusik.
Warum bestehen sie nur darauf, selbst Hand anzulegen? Ist das nicht Sache des Staates? De los Ángeles Stimme wird scharf: „Weil es sonst niemand tut.“ Sie versteht nicht, was daran so schwer zu verstehen ist. „Glaubst du, einer Mutter machst so etwas Spaß? Wenn wir vertrauen könnten oder genug Geld hätten, jemanden zu beauftragen, würden wir das nicht selber machen“.
Lucia de los Ángeles entspricht nicht dem Bild einer Leidensmutter. Mit Politik hatte die sportive Frau nie etwas zu tun. Jetzt besucht sie Kongresse für Forensik, macht Weiterbildungen. Sie hat, was den meisten Gewaltopfern fehlt: Ressourcen, Selbstbewusstsein, auch Autorität. Man kann sich vorstellen, wie Funktionäre sich vor ihrem Zorn fürchten mögen.
Einmal wollten die Behörden ihr, als sie durch Auftritte im Fernsehen immer bekannter wurde, einen Leibwächter zur Seite stellen. „Der kam gar nicht hinterher“, sie lacht ihr kurzes, hartes Lachen. „Und da habe ich gesagt, ihr lasst mich mal besser in Frieden.“ Sie hat das Charisma einer Chefin. Selbst die Polizisten an der Eingangspforte der Grabungsstätte fragen Besucher, ob die Durchfahrt mit „Doña Lucy“ abgesprochen sei.
Die Siedlung Colinas de Santa Fe, berühmt geworden durch das nahe Massengrab, wirkt halb verlassen. Vor den bunten Häuserwürfeln gibt es kleine Vorgärten mit ein paar Zierblumen, den ein oder anderen Mandelbaum, hier und da steht ein Auto vor der Tür. Von der Hitze träge gewordene Hunde streifen durch das zerzauste Gras. Keine zweihundert Meter von dem Eckladen steht der Metallzaun mit dem Wachposten.
Niemand spricht
Auf acht oder neun Jahre schätzt der Polizist die Siedlung. Die ältesten der exhumierten Körper sollen laut Behörden nicht länger als sechs Jahre, die jüngeren kaum ein Jahr in der Erde gelegen haben. Eine unheimliche Rechnung: Zumindest wer im Umkreis des Kiosks wohnt, muss größere Fahrzeuge bemerkt haben, die hier rein- und rausgefahren sind. Sechzehn Leichname transportiert man nicht in einem PKW.
Und es ist die einzige Zufahrt, die auf das Gelände führt. Celia García lebt seit ein paar Jahren in der Siedlung. „Es ist ausgeschlossen, dass die Leute hier das nicht mitbekommen haben“, sagt sie. Aber keiner habe je etwas gesagt.
So war es schon, als ihr Sohn Alfredo an einem Julitag im Jahr 2011 in einem Nachbardorf verschwand: Ein erwachsener Mann löst sich in Luft auf, keiner will etwas gesehen haben. Und auch danach sei keiner gekommen, um sich zu erkundigen, zu helfen. Die Wellen der Gewalt, die in Mexiko ganze Regionen überrollen, wirken vor Ort wie eine Seuche.
Niemand will sich anstecken, Ermordete oder Verschwundene sind posthum verdächtig. Nur der Pfarrer von nebenan ruft manchmal zum Gebet. Aber da ist García dann zu müde. Denn wenn sie am Nachmittag nach Hause kommt von den Grabungen, nimmt sie eine Dusche, isst noch eine Suppe und fällt ins Bett.
Es ist jetzt eine andere Art der Erschöpfung. Über Jahre war sie wie gelähmt: Erst die Hilflosigkeit, dann kamen die Depressionen. Ihr kleines Lokal musste sie schließen. Als sie letzten Sommer zum Colectivo stößt, wird etwas anders. So seltsam es klingt, die Arbeit auf dem Totenfeld habe ihr gut getan: Etwas tun zu können, aus der Ohnmacht und dem Wartezustand herauszukommen, wirkt befreiend. Die Frauen fangen einander auf. „Wir wissen alle, wie es ist, nicht schlafen zu können, wir reden sanft miteinander.“
Respekt vor den Toten
Was García auch nach all den Monaten noch schwerfällt: sich den Horror der hier Verscharrten vorzustellen oder auch die Fühllosigkeit der Totengräber. „Sie essen hier sogar zu Mittag“, sagt sie und klingt noch immer fassungslos. Man habe leere Wasserflaschen und Pizzaschachteln in den Grabstellen gefunden. Sie schüttelt den Kopf. „Ich möchte hier erst weg, wenn wir alle rausgeholt haben.“ Natürlich geht es noch immer um ihren Sohn. Aber ihre Suche ist größer geworden, hat sich mit anderen verflochten. „Wenn ich ihn nicht finde, dann wenigstens ein Kind von anderen Leuten. Und andere suchen vielleicht anderswo nach meinem Sohn.“
Doch bei alledem ist es eine Suche, deren Erfolg immer auch das Ende aller Hoffnung bedeutet: Denn gefunden werden die Verschwundenen erst, wenn sie als Tote identifiziert sind. García möchte ihren Sohn wieder haben, in jeder Gestalt, wie sie versichert. Aber eigentlich, fügt sie leise hinzu, „möchte ich ihn nicht hier finden“.
Es fällt auf, wie de los Ángeles, García und die anderen von den Funden, also den Überresten sprechen: von der persona, nie von etwas. Von dem Menschen, nicht vom Kadaver. Jedes Mal, wenn wieder ein Körper ausgegraben wird, gibt es eine kleine Runde, eine Kerze wird angezündet, ein kurzes Gebet. „Das letzte, was dieser Mensch erlebt hat, war Gewalt und Bösartigkeit“, sagt de los Ángeles, ihre Stimme wird weich.
Also soll das erste, womit seine Überreste in Berührung kommen, „Liebe und Respekt“ sein. Genauso wichtig ist ihr die Genugtuung, die Mörder um ihren Triumph zu bringen. Ein Mitstreiter habe mal zu ihr sagt: „Wenn sie mich hier umbringen, wäre mein letzter Gedanke – hier findet mich doch keiner.“ Genau darum geht es ihr: „Dass die das nicht schaffen, jemanden auf immer verschwinden zu lassen.“
Doch noch etwas fällt auf: „Wir suchen nicht nach Schuldigen“, das sagen einem hier alle. García überlässt die Sache mit der Schuld lieber „dem Herrgott und dem eigenen Gewissen“. Wie wichtig ein handfestes Grab für die Trauer der Zurückgebliebenen ist, weiß man aus Gewalt- wie Naturkatastrophen in aller Welt. „Damit das Leben in uns zurückkehren kann“, erklärte de los Ángeles schon beim ersten Kennenlernen vor einiger Zeit, muss man die Toten begraben können.
Und doch irritiert das Mantra, wenn man die Sprechchöre im Ohr und die Flugblätter vor Augen hat: justicia, Gerechtigkeit, oder juicio y castigo, Prozess und Bestrafung, gehören zum Kernbestand der Kämpfe um Menschenrechte.
Sicher hat das damit zu tun, dass die Suchenden von Veracruz wie die meisten Mexikaner nicht an die Gerichte oder gar an den Rechtsstaat glauben. Straflosigkeit ist Alltagserfahrung und Lebensgefühl in Mexiko, erst recht, wenn Amtsträger oder Uniformierte in Delikte verstrickt sind.
Keine Suche nach den Tätern
Doch die Botschaft geht wohl auch an die Täter und Totengräber, deren Geheimfriedhof umgepflügt wird. Lasst uns in Ruhe graben, wir sind nicht hinter euch her. Denn womöglich sind die Täter noch in der Nähe. „Wir würden nicht mal sehen, woher die Schüsse kommen“, sagt eine Sucherin von Solecito und zeigt auf die wild bewachsene Böschung rundherum.
Für Forensiker wie das 2013 gegründete unabhängige mexikanische Team für forensische Anthropologie (EMAF) ist diese Haltung ein Problem. Denn forensisch bedeutet immer auch, Beweise zu finden. Nicht nur den Menschen, sondern auch den Tathergang rekonstruieren, erst recht, wenn es um so großflächige Verbrechen geht. Die Wissenschaftspolizei kümmert sich ausschließlich darum, die Toten zu identifizieren – und das geht langsam voran. 10 der 274 Leichen aus dem Massengrab in Veracruz sind bislang identifiziert.
Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
„Wer aber identifiziert das Verbrechen und die Verbrecher?“, fragt EMAF-Chefin Roxana Enriquez. Herauszulesen gilt es, wie lange und von wem das Leichendepot betrieben wurde, mit welcher Infrastruktur und Organisation. Und wie ein Geheimfriedhof neben dem rund um die Uhr überwachten Hafenareal möglich ist, ohne dass Sicherheitskräfte das mitbekamen. Lucía de los Ángeles hält das für „völlig ausgeschlossen“.
Die Profis vom EMAF wissen, dass sie Gruppen wie Solecito kaum abhalten können, selber mit der Schaufel ins Feld zu ziehen. Aber es steht im Widerspruch zum Anspruch, gegen die Straflosigkeit zu arbeiten. So vermitteln sie in ihren Workshops den Angehörigen keine Suchtechniken, sondern forensisches Wissen. Wichtig sei, dass die Suchenden den Tatort „nicht kontaminieren“. Vor allem aber, dass sie ihre Rechte kennen und die staatlichen Ermittler zu „korrekter Arbeit“ drängen.
Was García wichtig ist: Dass die Lichtung ein „sauberer Ort“ geworden ist. Eine Nachbarin habe sich beschwert, dass es seit der Graberei so stinken würde. Aber die Leichen würden ja abtransportiert, „wir nehmen sogar unsere Mülltüten mit“, sagt de los Ángeles. Sie ist empört: „Es riecht hier doch nicht nach Tod oder so. Oder habt ihr hier etwa Gestank bemerkt?“ Nein, können wir sie beruhigen, zu riechen war tatsächlich nichts.
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