Verschwörungstheorien unterm Tannenbaum: „Im Zweifel ein Gespräch beenden“
Sonja Marzock von der Beratungsstelle „entschwört“ berät Menschen, deren Umgebung Verschwörungstheorien rund um Corona anhängt. Tipps zum Fest.
taz: Frau Marzock, seit Sommer 2021 beraten Sie im Rahmen des Projekts „entschwört“ Angehörige Verschwörungsgläubiger. Ist bei Ihnen schon die Hölle los oder rechnen Sie mit dem Schlimmsten erst nach Weihnachten?
Sonja Marzock: Der Bedarf, den wir wahrnehmen, ist jetzt schon sehr groß. Viele haben Sorgen davor, dass die Familienfeierlichkeiten eskalieren, und fragen sich, wie sie sich auf Weihnachten vorbereiten sollen. Es melden sich etwa erwachsene Kinder, deren Eltern in Rente sind, viel Zeit haben und sich in Verschwörungserzählungen geflüchtet und diese als Bewältigungsstrategie während der Pandemie gewählt haben. Wenn die Familien jetzt zusammenkommen werden die Konflikte noch mal offenbarer werden. Dann können Positionen zum Vorschein kommen, von denen man nicht wusste, dass sie vertreten werden.
34, hat Politikwissenschaft, Genderstudies und Sozialwissenschaften im Ruhrgebiet studiert. Seit Juli 2021 leitet sie „entschwört.
Welche Rolle spielt die Frage der Impfung?
Die Impfthematik verschärft die Konflikte. Es ist schwierig, mit Leuten umzugehen, die glauben, dass alle Geimpften sterben werden. Am Ende muss jeder schauen, wie man für sich und seine Familie ein sicheres Weihnachten gestalten und dafür gemeinsame Regeln aufstellen kann. Etwa, dass sich alle testen oder man sich notfalls auch nur draußen trifft.
Wie sollen Angehörige reagieren, wenn unterm Weihnachtsbaum Corona geleugnet oder von der großen Weltverschwörung geschwurbelt wird?
„Entschwoert – Beratung für Verschwörungsmythen im persönlichen Umfeld“ heißt das Projekt des Sozialträgers Pad in Kooperation mit der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus. Kostenlose Einzelfallberatungen; Kontakt: entschwoert.de. Ebenso können sich Betroffene an die Beratungsstelle Veritas wenden.
Coronaproteste des verschwörungsideologischen Spektrums sind in Berlin wieder für den 27. Dezember geplant. Aufgerufen wird zu Versammlungen vor allen Rathäusern. Auch eine Menschenkette und ein eigener Nazi-Aufmarsch der Patriotic Opposition Europe ist angekündigt. Aktuelle Infos gibt es bei berlin-gegen-nazis.de.
Die Frage muss sehr individuell beantwortet werden. Gut ist es, wenn man sich positioniert und Verschwörungserzählungen nicht unwidersprochen lässt, also klar sagt: Ich sehe das anders. Das ist auch wichtig als Signal für andere Familienmitglieder, die selbst nicht so lautstark Position beziehen und dadurch mitbekommen, dass es auch andere Meinungen gibt. Im Zweifel muss ein Gespräch über diese Themen auch einfach beendet werden. Beim Wechsel zu einem anderen Thema kann es hilfreich sein, den Tisch der Diskussionen zu verlassen und einen Spaziergang zu machen. Es können auch Regeln vereinbart werden, wie das Thema ausgespart werden kann. Wichtig ist, vor allem die eigenen Grenzen zu beachten.
Sollte man sich vorbereiten und Argumente gegen gängige Verschwörungen parat haben?
Ob Argumente noch etwas bringen, hängt davon ab, wie festgefahren der Konflikt ist. Es ist möglich, sich mit Faktenfindern vorzubereiten. Viele tun das auch. Aber wenn Personen schon stark abgedriftet sind, dann wird das nicht mehr gehört. Dann enden Diskussionen schnell in einer Pattsituation. Man sollte davon abkommen, dass man erwachsene Personen von ihrem Standpunkt abbringen kann. Ändern kann man nur sein eigenes Verhalten den Personen gegenüber, wenn man den Kontakt aufrechterhalten möchte.
Wie sehr können Verschwörungserzählungen persönliche Beziehungen belasten?
Nach anderthalb Jahren Pandemie sehe ich, wie sehr sich Beziehungen und Familien voneinander entfremdet haben. Diskussionen, die sich immer im Kreis drehen, und Angehörige, an die man nicht mehr herankommt, führen zu Frustration, Verzweiflung und Trauer. Viele haben sich aufgerieben, haben selbst in den Telegram-Gruppen mitgelesen und können irgendwann nicht mehr. Zu uns kommen Menschen, die Kontakte schon abgebrochen haben, um noch mal einen anderen Umgang zu suchen, einen Weg, die Beziehung aufrechtzuerhalten, um die eigenen Angehörigen nicht völlig dem verschwörungsideologischen Umfeld zu überlassen.
Wieso sind Verschwörungserzählungen mit Corona so sehr im Aufwind?
Corona hat für viele einen Kontrollverlust bedeutet: Auf einmal konnte der Alltag nicht mehr so geführt werden wie gewohnt. Damit einher geht ein Ohnmachtsgefühl, nicht mehr steuern zu können, was gerade passiert. Dazu kommen andere persönliche Krisen. Das kann der Verlust des Jobs sein oder allgemeiner das vor allem in Ostdeutschland verbreitete Gefühl, seit Langem ignoriert zu werden. Die Zuwendung zu Verschwörungserzählungen ist eine Bewältigungsstrategie, um Kontrolle zurückzuerlangen. Einfache Welterklärungen werden dankbar angenommen, wenn man sich vieles nicht mehr erklären kann. Die Annahme, dass man die Wahrheit erkannt hat, während alle anderen Schlafschafe sind, hat auch eine identitätsstiftende Funktion.
Nun zur Lieblingsfrage aller Verschwörer:innen: Wer profitiert von der Verbreitung dieser Theorien?
Zum einen sind das die Verschwörungsgläubigen selber, weil sie sich die Welt damit so gestalten, wie es für sie erträglich ist. In ihrer Vorstellung begeben sie sich damit aus der Opferrolle heraus und kämpfen aktiv um Freiheiten, die ihnen von vermeintlichen mächtigen Eliten genommen wurden. Genau solche Positionen sind aber anschlussfähig an die extreme Rechte, die ihrerseits den Hass auf das Establishment vorantreibt. Die AfD ist ein Profiteur dieser Erzählungen, sie nutzt eine Feindlichkeit gegen Wissenschaft, Medien und Eliten gezielt für ihre Politik. Ökonomisch betrachtet haben einige, die Querdenken vorangetrieben haben, mit der Ausbreitung dieser Erzählungen viel Geld verdient.
Als individuellen Spleen sollte man Verschwörungstheorien des Onkels nicht abtun?
Nein. Vor allem, wenn sich immer mehr Menschen solchen Erzählungen zuwenden, hat das Auswirkungen auf die Gesellschaft. Im schlimmsten Fall erwachsen daraus Taten. Die meisten Verschwörungserzählungen haben zudem einen antisemitischen Charakter. Die Annahme, dass Juden das Weltgeschehen lenken würden und die wahren Profiteure etwa von Impfungen sind, ist sehr weit verbreitet. Daher ist es aus menschenrechtlicher Perspektive geboten, solche Aussagen zurückzuweisen.
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