Verschwörungstheorien um Gezi-Urteil: Die Polizei war doch schon weg
Nach der Entscheidung des Istanbuler Verwaltungsgerichts machen Verschwörungstheorien die Runde. Warum wurde der Beschluss vom 6. Juni erst jetzt publik?
BERLIN taz | Bislang war es Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und den Seinigen vorbehalten, Verschwörungstheorien über vermeintliche Hintermänner für die Gezipark-Proteste zu verbreiten: Mal waren mysteriöse „ausländischen Kräfte“ für den Aufstand verantwortlich, mal war es die „Zinslobby“, internationale Medien oder die Putschistengruppe Ergenekon. Zuletzt erkannte der stellvertretende Regierungschef Besir Atalay in der „jüdischen Diaspora“ die Hintermänner des Aufstands.
Nachdem das Erste Istanbuler Verwaltungsgericht am Mittwoch auf Antrag der Architektenkammer den Bebauungsplan für den Gezipark //:gekippt hat, machen nun auch unter Kritikern der Regierung Verschwörungstheorien die Runde. Der Grund: Das Urteil wurde am 6. Juni gefällt, also eine Woche nach Beginn der Proteste.
Diese hatten sich am Plan der Regierung entzündet, anstelle des Parks im Zentrum Istanbuls ein Einkaufszentrum mit der originalgetreuen Fassade einer osmanischen Kaserne bauen zu lassen. Bald waren sie zu einem landesweiten Aufstand gegen Erdogan und seinen autoritären Regierungsstil angewachsen.
Nun fragen viele Regierungsgegner: Warum hat das Gericht seine Entscheidung so lange zurückgehalten? Zum Zeitpunkt des Urteils hatte sich die Polizei weiträumig aus dem Stadtzentrum Istanbuls zurückgezogen. Erst am 11. Juni stürmten Polizeikräfte den Taksimplatz und entfernten die Barrikaden. In der Nacht vom 15. auf den 16. Juni räumte die Polizei auch das Zeltlager im Gezipark mit Reizgas, Wasserwerfern und Gummigeschossen.
Der Protest geht weiter
Mit einer sehr eigenwilligen Auslegung rechtsstaatlicher Prinzipien hatte Erdogan einige Tage zuvor bekannt gegeben, dass seine Regierung das Gerichtsverfahren abwarten würde. Allerdings hatten bereits am 27. Mai die Abrissarbeiten im Park begonnen. Erst daraufhin versammelten sich dort die ersten Demonstranten.
Der Tageszeitung Hürriyet zufolge begründete das Gericht sein Urteil unter anderem damit, dass bei der Erstellung der Baupläne die Verwaltung des Stadtbezirks Beyoglu und die Denkmalschutzbehörde ebenso wenig angehört worden seien wie Anwohner, Gewerbetreibende und Bürgerinitiativen.
Rechtskräftig ist das Urteil noch nicht. Die Regierung kann innerhalb von vier Wochen Widerspruch einlegen. Und ein Ende der Protestbewegung scheint das Urteil nicht zu bedeuten. Die Entscheidung des Gerichts zeige, dass der Kampf der Demonstranten gerechtfertigt gewesen sei, teilte das Protestbündnis „Taksim-Solidarität“ am Mittwochabend mit. Das Bündnis werde sein Engagement fortsetzen.
Denn längst geht es um mehr. Und nach der Räumung des Geziparks hat sich die Bewegung auf die „Park-Foren“ verlagert. Im Abbasağa-Park im Istanbuler Stadtteil Beşiktaş, von wo aus diese neue Bewegung ihren Ausgang nahm, diskutierte man zuletzt schon über andere Themen: Kurdenfrage, sexuelle Belästigung in Polizeigewahrsam und Kriegsdienstverweigerung, die in der Türkei rechtlich nicht vorgesehen ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands