Verschwörung in der Popkultur: Wissen aus dem inneren Kreis
Kaum jemand ist leichtgläubiger als der Fan. Denn Popmusik appeliert nicht an unseren Intellekt, sondern an unseren Arsch.
Paul McCartney ist seit 1966 tot. Elvis hingegen lebt, ebenso wie Jim Morrison und Tupac Shakur. Michael Jackson war in Wahrheit seine „Schwester“ La Toya, weilt demnach also auch noch unter den Quicklebendigen. Justin Bieber ist ein Echsenmensch, genau wie Rihanna, die nebenbei den „Illuminati“ angehört, und Beyoncé gibt ihre „Tochter“ Solange als ihre „Schwester“ aus. Stevie Wonder war nie blind. Jay-Z ist ein zeitreisender Vampir, Beyoncé sowieso. Kurt Cobain wurde von Courtney Love erschossen und Tupac vom FBI – nur für den Fall, dass er tatsächlich tot ist und nicht mit Elvis und Jim Morrison auf den Bahamas in einer WG lebt.
Es könnte nicht unwichtig sein, sich diese Tatsache zu vergegenwärtigen. Pop und die „wirklich wahre, streng geheime Wahrheit, auf die kommen kann, wer das nur wirklich will“, verbindet eine ebenso enge wie komplexe Verwandtschaft. Die Wiege der modernen Verschwörungsmystik steht im Plattenladen.
Im flüchtigen Geschäft, das der Pop betreibt, ist die Wahrheit keine gültige Währung. Pop appelliert nicht an unseren Intellekt, sondern an unseren Arsch. Der soll wackeln. Er lebt von der schönen Lüge, dem Mythos. Das gilt nicht nur für seine Produzentinnen, sondern auch für das eigentliche Produkt – den Song. Bestenfalls bringt er in drei Minuten „auf den Punkt“, was der Hörer bisher nur geahnt, gefürchtet, gehofft hat.
Als poetisches und ästhetisch kontextualisiertes Kondensat von Erlebtem oder Erfühltem erscheint der Song bisweilen wie die reine Wahrheit. Wer Liebeskummer hat, für den ist beispielsweise „I Will Survive“ von Gloria Gaynor (oder „XY“ von wem auch immer) reinster Balsam. Ein direkter Durchstich ins Herz, unter Umgehung der Vernunft. Der Rhythmus, bei dem man mit muss.
Besonders hoher Anteil an Verquerköpfen
Mag sein, dass „I Will Survive“ nur eine Lüge gewesen und Gloria Gaynor irgendwann doch noch am Schmerz zugrunde gegangen ist. Für die Dauer des Songs aber lebt sie. Und für den empfänglichen Hörer ist diese tröstende Behauptung wahr genug. Man nimmt mit, was man brauchen kann.
Bisher sind Popmusiker verhältnismäßig selten als Verschwörungsschwurbler aufgefallen. Meistens waren sie eher Gegenstand angeblichen Geheimwissens als dessen Verbreiter. Ein Denken jenseits irgendwelcher Normen gehört gewissermaßen zu Lifestyle und Berufsbeschreibung. Unter den Künstlerinnen und Künstlern mag, bedingt durch Drogen oder Größenwahn, der Anteil an Verquerköpfen sogar ein wenig höher sein als anderswo.
Wenn heute Gestalten wie Xavier Naidoo, Sido, ein veganer Koch (oder wer sonst noch alles unter „Popstar“ läuft) seine Ansichten unters Volk bringt, hat das etwas mit den veränderten Vertriebswegen zu tun. Früher nahm eine Musikerin unter den Fittichen einer Plattenfirma ein Album auf, das von der – ebenfalls Mythen produzierenden – Fachpresse rezensiert wurde, bevor sie auf Tournee ging und dort, nur dort, in direkten Kontakt mit ihrem Publikum kam.
Heute kann ein Künstler zu Hause seine Musik machen, sie aus seinen eigenen vier Wänden heraus vertreiben – und zugleich über die „sozialen Medien“ sein Publikum rund um die Uhr auf dem Laufenden halten. Über den Urlaub, die anstehende Tournee oder auch nur den Kram, der ihm so durch den Kopf rauscht.
Fans sind Fanatiker
Das ist oft ein buntes Nichts, aber zugleich nicht wenig. Was hier geknüpft wird, ist ein unsichtbares Band über das spürbare Gefälle zwischen „Star“ und „Fan“ hinweg. Wenn Fußball sublimierte Kriegsführung ist, kann jedes Popkonzert auch als spielerische Variante auf eine totalitäre Veranstaltung gelesen werden.
Dieses heikle Verhältnis ist nichts Neues und schon oft genug ins Produktive gewendet worden. Man denke, je nach Geschmack, an das provokante Spiel mit SS-Symbolik im Punk, wahlweise auch an ein Album wie „The Wall“ von Pink Floyd – einer ihrerseits schon wieder megalomanen Meditation über das faschistoide Potenzial im Verhältnis zwischen „denen auf der Bühne“ und den ergebenen Massen davor.
Nun ist der einzelne Fan bekanntlich nie Masse, sondern Mensch – und als solcher besonders empfänglich für die sozusagen außerordentliche Berührung oder Ansprache durch den Star. Vor allem ist er: Fan, also Fanatiker. Wer jemals versucht hat, eine 14-jährige Verehrerin von K-Pop oder den 64-jährigen Freund von Bob Dylan eines „Besseren“ zu belehren, weiß, was das heißt. Eine Belehrung ist nicht möglich.
Es ist seine Treue, die den Fan zum Fan macht. Ihre oder seine Haltung zum Objekt der Verehrung ist esoterisch im Wortsinn. Ein Fan ist Fan, weil er Zugang zu einem Wissen hat, das nur einem „inneren“ Kreis vorbehalten ist. Er oder sie ist geweiht. Durch Autogramme, Merchandise, Hintergrundinformationen oder – Hauptgewinn! – die direkte Ansprache.
Wenn der Star selbst verrückt wird
Die eingangs erwähnten Popmythen gingen nicht vom Star aus, sondern vom Fan. Ein heißlaufendes Informationsbedürfnis dreht sprichwörtlich durch und produziert Unsinn, der den ursprünglichen Mythos noch verstärkt. Elvis ist nie gestorben, weil er unsterblich ist. Punkt. Beweise mir das Gegenteil!
Neu hingegen ist, dass umgekehrt der Star durchdreht und, dauergespiegelt durch seine „Follower“, gewissermaßen an sich selbst verrückt wird.
Nicht selten ist er da, wo er ist, weil er gerade nicht tat, was alle tun. Andersdenken und Andersmachen sind die Basis seines Erfolgs. Dissidenz im Sinne einer Distanz zum Hergebrachten ist dem Star also eingeschrieben – sonst wäre er keiner. Er hat allen Grund, auf seine Haltung stolz zu sein. Von seinem Standpunkt jenseits der Geländer der Norm allerdings ist es oft nur ein Schritt in den Irrsinn.
Nun nimmt der abseitige Quatsch, den man bei einem Sänger wie Xavier Naidoo zuvor noch überhören konnte („Marionetten“), auf einmal politische Formen an.
„Follower“ sind Falschgeld
Gestern noch galt der Künstler als „Medium“, das höherer Weihen teilhaftig geworden ist und davon in seiner Kunst erzählen kann. Nun verteilt der Verteiler die „rote Pille“ der angeblichen Realität – und ist doch selbst kein Urheber mehr, nur noch medialer Durchlauferhitzer für einen Irrsinn aus zweiter oder dritter Hand.
Das ist im Einzelfall tragisch, aber nicht dramatisch. Schnurrt das vorgebliche Medium wieder auf das Maß eines armseligen Menschleins zusammen, gehen ihm rasch die ebenso vorgeblichen Fans von der Fahne. Hingabe wird dann obsolet.
„Follower“ sind sozusagen Falschgeld und nicht mit „Gefolgschaft“ zu verwechseln. Ein Umstand, der allen Verteilern und Verstärkern popkulturellen Verschwörungsschwurbels schmerzlich bewusst wird, wenn sie ihre virtuelle Zuschauerschaft auf die Straße lotsen wollen. Das geht verlässlich schief.
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