Verschollene Kunst: Segen für den Ausverkauf
Hermann Göring hortete Kunst, darunter auch Werke, die als „entartet“ bezeichnet wurden. Wie die Kirche half, verfemte Werke zu veräußern.
Am 30. Oktober 1936, wenige Wochen nach den Olympischen Spielen, schloss im Berliner Kronprinzenpalais die neue Abteilung der Nationalgalerie. Die Abteilung war 1919 gegründet worden und die weltweit erste Sammlung, die moderne, insbesondere expressionistische Kunst präsentierte. Ikone der Ausstellung war unbestritten „Der Turm der blauen Pferde“ von Franz Marc. Marc hatte ein zwei Meter hohes hochformatiges Gemälde geschaffen, das vier Pferde mit leuchtend blauen Leibern zeigt.
1937 wurde das Bild in die Schorfheide, in das Anwesen von Hermann Göring gebracht, dem nach Hitler mächtigsten Mann im Nazireich. In Carinhall, so nannte er das Grundstück nach seiner verstorbenen Frau, hortete Göring, ab 1940 Reichsmarschall, Kunst. Gegen Ende des Krieges ließ der Hausherr die Schätze dann auslagern und die Gebäude sprengen. Wer heute eine Dampferfahrt auf dem benachbarten See unternimmt, erfährt mancherlei Privates über Göring, auch über seine Kunstsammlung. Wobei hier schnell Dichtung und Wahrheit ineinander übergehen.
Wahr ist, dass es sich um die größte private Kunstsammlung in Nazideutschland handelte mit etwa 300 Skulpturen und Plastiken, 140 Wandteppichen, 1.700 Gemälden, darunter sogar einige „entartete“ Kunstwerke. Über das Schicksal dieser Kunst wurde und wird geforscht. Ein Buch jedoch verdient besondere Beachtung. Für Historiker zeigt es Neues, und für Nichtfachleute liest es sich fast wie ein Krimi. Vor 15 Jahren erschien „Hitlers fromme Bilderstürmer“.
Der Autor Hans Prolingheuer ist Kirchenhistoriker und hat seit Beginn der achtziger Jahre eine Reihe von Büchern und Monografien über die Kirche während der NS-Zeit veröffentlicht. So stieß er dabei auch auf die Aktivitäten des 1928 gegründeten evangelischen Kunstdienstes, der die Akzeptanz moderner bildender Kunst in der evangelischen Kirche erweitern wollte. Der Kunstdienst bot Vorträge an, aber auch Hilfe bei Kirchenbauten und der Gestaltung von Innenräumen.
Die „frommen Bildestürmer“
Doch Prolingheuer entdeckte, dass die kunstbeflissenen Christen bald noch mit einer ganz anderen Aufgabe betraut wurden. Die „frommen Bilderstürmer“ waren jene Kunstdienstmitarbeiter, die sich ab 1938 bei der Aktion „Entartete Kunst“ hervortaten. Als „entartet“ galten Werke der Moderne, die sich der Naziideologie entzogen und die als „undeutsch“ diffamiert wurden, darunter Arbeiten von Emil Nolde, Ernst Barlach, Otto Dix, Paula Modersohn-Becker, Käthe Kollwitz, Franz Marc und vielen anderen.
Die Schließung der neuen Abteilung der Nationalgalerie war nur der Auftakt. 1937 wurden Werke der Moderne auf staatliche Anordnung hin aus allen öffentlichen Sammlungen und Museen entfernt. Die als „entartet“ geschmähten und konfiszierten Kunstwerke wurden in einer Wanderausstellung mit diffamierenden Kommentaren präsentiert.
Da Hitler aber zur Vorbereitung seines Krieges dringend Devisen benötigte, sollten die verfemten Kunstwerke gegen Devisen ins Ausland verkauft werden, und der evangelische Kunstdienst sollte sie vermarkten. Prolingheuer ist der Erste, der dies beleuchtet hat.
Verkaufsauftrag vom Propagandaminister
Goebbels hatte bei dem Ausverkauf die Federführung. Dem Propagandaminister war dies nur recht, konnte er doch die Werke zunächst einmal vor der Vernichtung retten. Schließlich war er, mehr noch als Göring, ein heimlicher Liebhaber dieser Kunst. Da Goebbels bereits seit 1933 in gutem Kontakt mit dem Kunstdienst stand, beauftragte er diesen mit dem Verkauf.
Und so besuchten ab September 1938 einige ausgewählte Kunsthändler das Schloss Berlin-Niederschönhausen, das Domizil des Kunstdienstes. Empfangen wurden sie von der charmanten jungen Gertrud Werneburg, die die Händler zu Werken von Emil Nolde führte, zu Franz Marc, August Macke, Paul Klee, Ernst Barlach, Wilhelm Lehmbruck.
Die Geschichte: Mit dem Begriff „Entartete Kunst“ diffamierte der NS-Staat nichtgenehme Künstler. Zwischen 1937 und 1938 ließ das Propagandaministerium von Joseph Goebbels zehntausende Kunstwerke beschlagnahmen. Etliche Werke wurden ins Ausland verkauft, manche womöglich zerstört.
Die Liste: Erst 1997 tauchte eine Liste auf, in der das Goebbels-Ministerium etwa 16.000 Werke benannt hatte und was mit ihnen geschehen war: Diese Liste ist seit 2014 öffentlich, konnte aber bisher nicht digital durchsucht werden.
Die taz-Suchmaschine: Mit Hilfe des Kirchenhistorikers Hans Prolingheuer hat die taz die Liste mit einer Suchfunktion ausgestattet. Sie ist unter kunstraub.taz.de zu finden.
Einer der Händler war Hildebrand Gurlitt. Dieser Name erregte im November 2012 die Öffentlichkeit, denn in der Münchner Wohnung von Cornelius Gurlitt, dem Sohn des Kunsthändlers, hatte der Zoll über tausend Werke gefunden, deren Herkunft als ungeklärt galt. Wer das Buch von Prolingheuer gelesen hatte, kannte den Namen Gurlitt bereits.
Neben dem reichhaltigen Quellenmaterial sind es die Selbstauskünfte von Gertrud Werneburg, die Prolingheuers Publikation so wertvoll machen. Zu Beginn der neunziger Jahre führte der Kirchenhistoriker ausführliche Gespräche mit der hochbetagten Frau.
Die Nazi-Elite bedient sich
Die damals Neunzigjährige berichtete detailliert, wie sich ab September 1938 der Verkauf der „entarteten Kunst“ abspielte und dass auch Hitlers Vertraute, etwa sein Leibarzt, gelegentlich ein Bild mitnahmen, obwohl sie die Werke doch offiziell verabscheuten. Mitarbeiter bereicherten sich ebenfalls. Auch Werneburg hatte für die Nachkriegszeit vorgesorgt. Einmal beendete sie ein Gespräch mit dem Satz: „Benommen haben wir uns nicht wie Kirche.“
In all den Jahren nach 1945 fehlte den Nachforschungen über den Verbleib der „entarteten“ Kunst eine wichtige Quelle: die Inventarliste. Mitarbeiter von Goebbels hatten Herkunft und Verbleib verzeichnet. Einen Teil der Liste gab es, aber nicht den vollen Überblick. Auch Hans Prolingheuer musste ohne sie arbeiten. Erst im Januar 2014 wird sie vom Londoner Victoria and Albert Museum veröffentlicht. Das Museum hatte sie 1996 von der Witwe des jüdischen Kunstsammlers Harry Fischer erhalten. Wie dieser in den Besitz der Liste gekommen war, bleibt unklar.
Im Rahmen der „Zukunftswerkstatt“ der taz erscheint jeden Freitag statt der Neuland-Seite eine eigene Seite für Leipzig, die taz.leipzig: geplant, produziert und geschrieben von jungen Journalist*innen vor Ort.
Sie haben Anregungen, Kritik oder Wünsche an die Zukunftswerkstatt der taz? Schreiben Sie an: neuland@taz.de. Das Team der taz.leipzig erreichen sie unter leipzig@taz.de
Die Liste ist alphabetisch nach Städten geordnet, von Aachen bis Zwickau, innerhalb der Städte nach Museen, und dann nach Künstlern. 16.558 Werke sind aufgeführt, darunter Skizzen, Druckgrafiken, Holzschnitte und ganze Mappen. Hinter dem Namen des Werkes steht die Eingruppierung, beispielsweise Ölgemälde, dann folgt der Käufername, der Preis und die Währung, in der gezahlt worden ist.
Werneburg hatte recht, manche wurden regelrecht verramscht. Beispielsweise kaufte Gurlitt das Aquarell „Frauen im Walde“ und andere Aquarelle von Ernst Heckel für je einen Schweizer Franken. Hermann Göring hatte eine Vorliebe für Franz Marc. Er eignete sich unter anderem die „Drei Rehe“ an. Sie finden sich auf Seite 8 der Liste, wo die konfiszierten Werke der Berliner Nationalgalerie aufgeführt sind. Etwas tiefer, unter dem Posten 295, findet sich dann auch „Der Turm der blauen Pferde“, ein Preis findet sich bei beiden Werken übrigens nicht.
Die taz-Kunstsuchmaschine
Prolingheuer ist der Erste, der zu der Liste ein Such- und Findbuch erarbeitet hat. In Zusammenarbeit mit dem Kirchenhistoriker hat die taz dann im November 2014 eine Suchmaschine online geschaltet. Seitdem lässt sich detailliert nach Künstlern, Museen und Kunstwerken suchen.
Das Buch von Hans Prolingheuer allerdings ist fast ausnahmslos totgeschwiegen worden. Für die Kirche ist es, vorsichtig ausgedrückt, unbequem. Für die historische Forschung ist es zumindest eine Herausforderung. Beispielsweise hat sie weitgehend die noch während der NS-Zeit verbreitete These übernommen, dass die nicht verkauften Kunstwerke vernichtet worden seien.
Prolingheuer kann zwar nicht eindeutig beweisen, dass diese These falsch ist, aber er führt eine Reihe von Argumenten an, die dafür sprechen, dass die nicht verkauften Werke, oder zumindest ein großer Teil davon, erhalten geblieben sind. Natürlich hat Prolingheuer auch Werneburg befragt. Sie sei nicht dabei gewesen, antwortete sie ausweichend.
Seit Beginn dieses Jahrhunderts wurden mehrere Kommissionen gegründet und Stellen für Provenienzforschung geschaffen. Seit 2003 arbeitet an der Freien Universität Berlin die „Forschungsstelle ‚Entartete Kunst‘ “. Inzwischen erhielt die Forschung viel neues Material, nicht nur den Gurlitt-Fund und die Inventarliste aus London.
Ungeklärte Erwerbsgeschichte
Trotz mancher Erfolgsmeldung sind die Ergebnisse insgesamt enttäuschend und erwecken den Eindruck, dass viele Fragen weiterhin offen sind. Eine davon: Wie sind manche Museen in den Besitz ihrer expressionistischen Bilder geraten? Die häufige Angabe „aus Privatbesitz“ ist vieldeutig. Oder: Das Londoner Auktionshaus Sotheby’s präsentierte im Mai 2016 zwanzig Kunstwerke, die der WDR in London und Paris versteigern lassen will, darunter ein Gemälde von Max Beckmann, dessen Wert das Auktionshaus auf 900.000 bis eine Million Euro schätzt.
Ein Hinweis, wie der WDR in den Besitz seiner Kunstwerke geriet, fand sich in den Pressemitteilungen nicht. Dass die nordrhein-westfälische Landesregierung und die Bundesregierung die Verkaufsabsichten kritisieren, beeinflusst den WDR nicht.
Das Buch von Hans Prolingheuer müsste fortgeschrieben werden, denn es besteht noch erheblicher Aufklärungsbedarf. Allerdings muss man sich wohl damit abfinden, dass das Schicksal mancher Kunstwerke nicht mehr aufgeklärt werden kann. Gehört der „Turm der blauen Pferde“, das seit 1945 als verschollen gilt, dazu?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos