„Verrücktes“ Kanal-Projekt für Istanbul: Erdoğan geht übers Wasser

Der türkische Präsident will neben dem Bosporus einen zweiten Wasserweg bauen. Experten verschiedener Fachrichtungen zeigen sich alarmiert.

Demonstration gegen Erdogans Kanal-Projekt am Freitag in Istanbul. Auf den Plakaten steht: "Wir werden Istanbul und das Leben verteidigen."

Demonstration gegen Erdogans Kanal-Projekt am Freitag in Istanbul Foto: reuters

ISTANBUL taz | Es ist eine Katastrophe. Es wird Istanbul zerstören. Wir müssen das unbedingt verhindern. Nein, im Gegenteil. Istanbul wird gerettet, wird noch schöner und noch reicher. Die Ansichten zu dem vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan selbst als „verrücktes Projekt“ bezeichneten Vorhaben, neben dem Bosporus noch einen zweiten Wasserweg, eine Art türkischen Suezkanal, zu bauen, könnten kontroverser nicht sein.

Das ist auch kein Wunder, denn von allen gigantischen Projekten, mit denen Erdoğan die Türkei in seiner 17-jährigen Regierungszeit beglückt hat, wäre der sogenannte „Kanal Istanbul“ mit Abstand das gigantischste. Wird der Kanal tatsächlich wie geplant im Westen der Stadt, in Richtung Bulgarien gebaut, wird aus dem europäischen Teil Istanbuls eine Insel. Im Norden das Schwarze Meer, im Osten der Bosporus, im Süden das Marmarameer und im Westen der Kanal.

„Der spinnt jetzt doch völlig“, ist unser Nachbar Ahmet überzeugt. „Kommt ein Erdbeben, können wir nicht mehr weg. Wir sitzen dann ja auf einer Insel.“ Seit Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu vor wenigen Tagen seinen entschiedenen Widerstand gegen Erdoğans „verrücktes Projekt“ verkündete, wird in Istanbul von nichts anderem mehr geredet als dem Kanal.

Geologen, Hydrologen, Ökologen, Experten aller Art melden sich zu Wort. Was sie zu sagen haben, ist höchst alarmierend. Durch den Kanal würde Istanbul wichtige, andere sagen: entscheidende Wasserressourcen verlieren. Durch den Kanalbau würde die Erdbebengefahr gesteigert. Noch schlimmer: der Kanal würde den Wasserhaushalt im Marmarameer entscheidend verändern, ein Teil dieses Binnenmeeres könnte umkippen, also ökologisch sterben.

Kriegserklärung an Erdoğan

In seiner Pressekonferenz, die einer Kriegserklärung an Erdoğan gleichkam, ließ Bürgermeister İmamoğlu noch eine weitere Bombe platzen. Nach Angaben des Istanbuler Katasteramtes sind entlang der geplanten Kanalstrecke in letzter Zeit 30 Millionen Quadratmeter Land verkauft worden. Als billiges Ackerland versteht sich, das nach dem Kanalbau zu teuerstem Bauland würde. 30 Millionen Quadratmeter, das ist mehr als die gesamte Istanbuler Altstadt.

Der Knaller aber ist: Die Spekulanten, die sich das Land gegriffen haben, kommen aus Arabien. Die drei größten Companies sind aus Katar, Kuweit und Saudi-Arabien. Bedient Erdoğan hier also seine arabischen Islamistenfreunde? Soll dort eine „Muslim-Brotherhood“-Kanalzone entstehen, wie viele Oppositionspolitiker glauben?

Eine der Großinvestorinnen ist die Mutter des Scheichs von Katar. „Na und!“, schrie Erdoğan in seinem gewohnten Stakkato in einer Rede vor seiner Fraktion, „wenn es Hans und George wären, hätte niemand etwas dagegen“. Nur sind es nicht Hans und George, weil westliche Großinvestoren sich hüten, 25, 30 oder noch viel mehr Milliarden Dollar in ein Projekt zu investieren, dessen ökonomischer Output höchst zweifelhaft ist.

Nach Darstellung der Regierung sollen solche Schiffe den Kanal nutzen und dafür bezahlen, die nicht mehr bereit sind, die langen Wartezeiten in Kauf zu nehmen, die für eine Bosporus-Durchfahrt anfallen. Denn die Bosporus-Passage ist zwar kostenlos, doch Wartezeiten sind im internationalen Transport-Business eben teuer. Da würden die Reedereien lieber Geld für eine Kanaldurchfahrt hinblättern.

Gigantische Grundstücksspekulation

Das sei doch eine Milchmädchenrechnung, sagt ein befreundeter Ökonom. Die Zahl der Öltanker, die durch den Bosporus fahren, nehme doch ständig ab, weil immer mehr Pipelines gebaut würden.

So bleibt der Verdacht, dass das „verrückte Projekt“ doch mehr ein politisches ist und vor allem eine gigantische Grundstücksspekulation auf Kosten Istanbuls.

Vor drei Tagen hat das Umweltministerium einen Prüfbericht öffentlich ausgelegt, gegen den die Einwohner der Stadt nun Einspruch einlegen können. Trotz Regen und Kälte bildeten sich vor den zuständigen Büros lange Schlangen von Leuten, die Einspruch erheben. Es sieht so aus, dass die Mehrheit die Schnauze voll hat von Erdoğans verrückten Projekten.

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