Verkehrswende mit Kiezblock: Kein Durchkommen
Schlupflöcher sperren, Schleichwege unterbinden: Gut platzierte Poller wie der am Neuköllner Richardplatz können für Verkehrsberuhigung sorgen.
Am Tag zuvor hatte Neuköllns Bürgermeister Martin Hikel (SPD) getwittert: „Heute haben wir die Schnalle zwischen Karl-Marx-Platz und Richardplatz geschlossen. 4.000 Fahrzeuge haben sich hier täglich durchs Quartier gequetscht. Damit erhöhen wir die Lebensqualität erheblich. Danke an alle, die das unterstützt und vorangetrieben haben.“
Die „Schnalle“ ist der Übergang zwischen Richardplatz und Karl-Marx-Platz und für viele Autofahrende ein beliebtes Schlupfloch durch den Kiez mit dem historischen Dorfplatz zwischen Sonnenallee und Karl-Marx-Straße.
Tagelang ging es so weiter mit der Aufregung, mit viel Gehupe und einigem Gebrüll rund um diesen einen rot-weiß gestreiften Stahlpfeiler, 90 Zentimeter hoch, 7 Zentimeter breit. Eine Woche später war er plötzlich weg, herausgerissen oder umgefahren und im Gebüsch entsorgt. Das Bezirksamt ersetzte ihn sofort.
Mittlerweile ist es viel ruhiger geworden: Die einen Autofahrer haben sich die Begegnung mit dem neuen Hindernis gemerkt, die anderen werden von Google Maps, TomTom und Co umgelenkt, die den Poller auch kennen.
Erstaunlich, welche Wirkung so ein Stück Metall haben kann. Auch anderswo ist das zu erleben, etwa in der Kreuzberger Körtestraße, wo seit Ende Mai ein besonders stabiler, elektrisch versenkbarer Poller dafür sorgt, dass die Fahrradstraße auch wirklich eine bleibt – bei den vorangegangenen Versuchen mit dünneren Pfosten hatten sich immer wieder Motorisierte hindurchgequetscht.
Der Poller vom Richardplatz ist übrigens nicht der erste Versuch, die Blechlawine aus dem Kiez zu vergrämen, schon 2003 hatte es eine Diagonalsperre im Kiez gegeben, als noch niemand das Wort „Modalfilter“ dafür verwendete. Auch damals gab’s viel Wut, und im Gegensatz zu heute knickte der Bezirk ganz schnell ein und entfernte die Metallbügel wieder. Seitdem galt Tempo 10 rund um den Richardplatz – woran sich bis heute niemand hält. Vor Kurzem sind Bodenschwellen hinzugekommen: Die „Rixdorfer Kissen“ sorgen etwas effektiver für Entschleunigung.
Kissen und Poller: Denen, die seit Jahren Druck auf Bürgermeister Hikel machen, reicht das nicht.
Die Initiative „Mehr Kiez für Rixdorf“ hat das Konzept für einen „Kiezblock Rixdorf“ ausgetüftelt, der das gesamte Gebiet mit ein paar weiteren Pollern in vier Zonen aufteilt. Wer von einer der umgebenden Hauptverkehrsstraßen hineinfährt, muss es auch wieder dorthin verlassen, alle Schleichwege sind passé. Gerade haben die Aktivistinnen ihren ersten großen Etappensieg gefeiert: Die Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung hat die Einrichtung eines Kiezblocks beschlossen, der sich an ihrem Konzept orientieren soll.
Bleibt die Frage, ob die Verwaltung das auch umsetzt. Für Lena Osswald von „Mehr Kiez für Rixdorf“ ist das alternativlos: „Es wäre ein Missverständnis zu denken, dass ein Poller das Problem löst. Am Richardplatz ist es ruhiger geworden, dafür sind jetzt andere Straßen stärker belastet.“
Nur: Guckt nicht am Ende immer jemand in die Röhre, im Zweifel die Menschen, die an den jetzt schon lauten Hauptstraßen wohnen? Verschiebt Verkehrsberuhigung nicht das Ärgernis einfach dorthin, wo ohnehin schon am prekärsten gewohnt wird? Das Problem ist auch Osswald bewusst: „Deshalb fordern wir gleichzeitig, den Verkehr auf den Hauptverkehrsstraßen zu beruhigen.“ Dort solle grundsätzlich Tempo 30 gelten, außerdem müsse der BVG-Bus auf der Saalestraße bevorzugt werden, der schon jetzt oft im Stau steckt.
Vielleicht profitieren aber die an den lauten Rändern ja auch von den großen, ruhigen Räumen, die in den Kiezen entstehen. Mir Ali zum Beispiel schwärmt vom Böhmischen Platz, einer kleinen, aber sehr urbanen Fußgängerzone in Rixdorf, mit Tischtennisplatten und Sitzgelegenheiten, Späti und Restaurants, Kiezflohmärkten und spontanen Open-Air-Konzerten. Dass hier vor 2017 noch Autos fuhren, daran kann sich der junge Neuköllner gar nicht mehr erinnern – und er findet die Vorstellung regelrecht absurd.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?