Verkehrswende in Paris: 500 Straßen autofrei und begrünt – ja oder nein?
Noch bis 19 Uhr können alle Pariser*innen heute für einen weiteren Schritt Richtung Klimaneutralität stimmen. Doch die Befragung hat ihre Tücken.

Am häufigsten sind die Menschen in Paris ohnehin zu Fuß unterwegs. Nach Angaben der Stadt legen sie fast zwei Drittel ihrer Wege gehend zurück. Das Auto werde auf innerstädtischen Strecken nur selten genutzt, nehme aber noch immer mehr als die Hälfte des öffentlichen Raums ein.
Seit 2002 ist der Autoverkehr in Paris um fast 50 Prozent gesunken. Die Zeiten, in denen Autos etwa direkt neben der Seine entlangfuhren, sind längst vorbei. Und auch auf zahlreichen großen Straßen, die die Stadt durchziehen, mussten Fahrspuren Radwegen und breiteren Fußwegen weichen.
In großen Teilen der sozialistisch regierten Stadt gilt nun Tempo 30, in der Innenstadt ist neuerdings eine Zone für den Durchgangsverkehr gesperrt, an Sonntagen gehören hier und dort Straßen Radler*innen und Fußgänger*innen. Und schon jetzt sind rund 220 der mehr als 6.000 Pariser Straßen autofreie Zone – viele von ihnen in der Nähe von Schulen.
Ergebnis am späten Abend erwartet
Paris geht es dabei auch um Anpassung an den Klimawandel. Die Fußgehzonen sind kleine grüne Orte in der sonst dicht bebauten Stadt. Paris hat inzwischen erheblich weniger mit schlechter Luft zu kämpfen als noch vor zehn Jahren.
Zwischen 9.00 Uhr und 19.00 Uhr können die knapp 1,4 Millionen eingetragenen Wählerinnen und Wähler nun entscheiden, ob 500 weitere Straßen in der ganzen Stadt bepflanzt und zur autofreien Zone gemacht werden sollen. 10.000 Parkplätze würden damit wegfallen, Autofahrer müssten sich auf Umwege einstellen. Erstmals dürfen auch 16- und 17-Jährige mitwählen. Das Ergebnis wird am späten Abend erwartet.
Sollten die Pariser sich bei der Bürgerbefragung für die autofreien Straßen aussprechen, könnten davon in jedem der 20 Arrondissements, also Stadtbezirke, bald circa 25 weitere entstehen. Welche Straßen genau das sein könnten, steht noch nicht fest. Die Umsetzung würde laut dem stellvertretenden Pariser Bürgermeister Patrick Bloche wohl etwa drei bis vier Jahre dauern.
Jedoch: Im kommenden Jahr stehen in Paris Wahlen an. Möglich, dass dann die konservativen Pariser Kräfte das Rathaus von der bisherigen sozialistischen Bürgermeisterin Anne Hidalgo übernehmen.
Geringe Beteiligung erwartet
Dass die Konservativen die Umwandlung der Straßen weiterverfolgen würden, ist äußerst fraglich. Ihr Sprecher Aurélien Véron kritisierte die Bürgerbefragung als Kommunikationskampagne und Propaganda. Die Fragestellung sei demagogisch, Menschen würden für dumm verkauft. Händler, alte Menschen und sogar Rettungsdienste würden durch die Fahrverbote eingeschränkt. Und die Kosten beliefen sich auf 250 Millionen Euro. Tatsächlich hatte Bürgermeister-Vize Bloche im „Parisien“ von etwa 500.000 Euro Ausgaben pro Straße gesprochen.
Anouch Toranian, die im Rathaus für Bürgerbeteiligung zuständig ist, hält dagegen, dass es um Raum gehe, der den Menschen zur Verfügung gestellt werde, um weniger Verschmutzung und weniger Lärmbelästigung. Außerdem will die Stadt die Menschen stärker einbeziehen. Bereits zweimal hatte Paris seine Bewohner*innen in Sachen Verkehrswende befragt – zum Verbot von E-Tretrollern zum Leihen und zu höheren Parkgebühren für schwere Autos.
Bei den Abstimmungen beteiligten sich nur etwa 7,5 und 6 Prozent der Wahlberechtigten. Toranian wäre jetzt schon mit einem Prozent zufrieden, sagt sie. „Wenn es einen Pariser gibt, der abstimmt, wäre das bereits ein Erfolg.“
Straßensperrung per Bürgerbefragung in Deutschland nicht denkbar
In Deutschland wäre ein Vorgehen wie in Paris nicht denkbar. Straßen können hier nicht per Bürgerabstimmung gesperrt werden, sondern über ein Verfahren zur Entwidmung, wie Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, schildert. Dabei würden die Interessen aller Straßennutzer berücksichtigt – etwa auch von Händlern.
Viele deutsche Städte bemühten sich längst um einen guten Verkehrsmix. „Dazu kann auch die Sperrung von Straßen für den motorisierten Verkehr gehören, wenn es zum Verkehrskonzept vor Ort passt.“ Klar sei aber: „Wenn wir weniger Autoverkehr haben wollen, dann brauchen wir mehr öffentliche Verkehrsmittel, mit guter Taktung und guter Erreichbarkeit.“ Hier hake es, denn die Finanzlage der Städte sei dramatisch. Sie bräuchten mehr finanzielle Unterstützung von Bund und Ländern für den öffentlichen Nahverkehr.
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