Verhalten in der Coronapandemie: Ein unmöglicher Spagat
Der US-Präsident hat im Umgang mit seiner Coronainfektion unser momentanes Paradoxon verdeutlicht: Wir sollen aufpassen, aber weitermachen wie bisher.
E rinnern Sie sich noch an Donald Trumps Verhalten als Coronapatient? Es hatte weltweites Kopfschütteln hervorgerufen. Da gab es seine Spazierfahrt aus der Klinik, seine „triumphale“ Rückkehr ins Weiße Haus und seine große Maskenabnehm-Geste. All das hat Fassungslosigkeit hervorgerufen. Aber man sollte dabei eines nicht übersehen: Was Trumps Großspurigkeit bewirken sollte, war eine Umcodierung.
Sein ganzes Verhalten folgte dem Drehbuch dieser Bedeutungsverschiebung. Es sollte aus dem Virus eine Herausforderung machen, der man mit Mut begegnen könne. Und nicht etwa mit Hygienemaßnahmen. Damit wollte er sich als jener starke Typus inszenieren, der vor der Biologie nicht in die Knie geht. Der mit seinem Körper als starker Führer in unsicheren Zeiten einsteht.
Joe Biden aber sollte damit den anderen Typus verkörpern. Seine Vorsicht in Sachen Prävention sollte damit als überängstlich, übervorsichtig, schwächlich denunziert werden – als Kapitulation vor dem Virus. Trumps verquerer Heroismus diente also dazu, die beiden Präsidentschaftskandidaten in zwei Coronatypen zu verwandeln.
Trump mag verrückt sein, aber in gewisser Weise brachte er die Absurdität unserer Situation zur Kenntlichkeit. Sein Exzess machte in entstellter Form die Unmöglichkeit unseres eigenen derzeitigen Alltags sichtbar. Wir halten uns gegenseitig vor, der Trump- oder der Biden-Typus zu sein: rücksichtslos, unvernünftig oder aber überängstlich, übervorsichtig – jeweils aus der Perspektive des anderen.
Unmöglichkeit des Alltags
In Realität aber wird uns abverlangt, beides zugleich zu sein. Wir sollen aufpassen – aber konsumieren. Dem Virus Tribut zollen – aber ausgehen. Also Normalität und Ausnahme zugleich leben. Denn irgendwer muss die Restaurants ja füllen, die Dinge kaufen, die Büros bevölkern, die Schulen, die Betriebe.
Alles soll am Laufen gehalten werden – unerschrocken. Und zugleich mit äußerster Vorsicht. Wir sollen beide Typen in einem sein. Trump und Biden in Personalunion. Das ist wie Stehen und Gehen zugleich. Ein unmöglicher Spagat. Wie soll das gehen: sich und andere schützen? In der vollen U-Bahn? Am Arbeitsplatz? Als Eltern von Schulkindern? Es steht letztlich nicht in unserer Macht, ob wir eher Trump- oder Biden-Typen sind. Ob wir „Entscheider“ oder Vernünftige sind – beides erweist sich in dieser Situation als relativ illusionär.
Der Spagat wird noch unmöglicher, wenn man bedenkt, dass wir in einem System leben, das gänzlich auf Kontinuität ausgerichtet ist. Und nicht auf Ausnahmezustand. Schon gar nicht auf die Unwägbarkeiten einer Normalität auf Abruf – wie bei all den Formen von „soften“, regionalen, temporären Maßnahmen. Wie soll eine Gesellschaft unter dem Damoklesschwert wiederkehrender Quarantänen funktionieren?
Wie lebt man damit?
Wie lebt die Lehrerin damit, immer wieder in Quarantäne zu müssen? Wie leben die Schüler damit? Und was vor allem macht die Angestellte, die als Kontaktperson einen „Absonderungsbescheid“ (so heißt das in Österreich) bekommt und deren Chef ihr sagt, ihre Abwesenheit werde ihren Urlaubstagen zugerechnet. Befolgt so jemand dann corona-vernünftig die Quarantäne – oder geht er corona-unvernünftig, aber unter ökonomischer Zwangs-Vernunft trotzdem in die Arbeit?
Die Frage, ob die Leute die Quarantänevorschriften einhalten, ist nicht nur eine Frage von Vernunft oder Unvernunft. Es ist nicht nur eine Frage des Wollens und des Nichtwollens. Es ist die Frage, ob wir in rechtlichen, ökonomischen, sozialen Zusammenhängen leben, die diese Frage überhaupt entscheidbar machen.
Dem unmöglichen Spagat des Einzelnen entspricht die Unmöglichkeit einer Gesellschaft, Normalität und Ausnahme zugleich zu leben: Die Normalität in die Ausnahme und die Ausnahme in normale Abläufe zu integrieren – das geht sich nicht aus. Wir haben hierzulande nicht nur im eigentlichen Sinn keine Wahl zwischen Trump und Biden. Wir haben noch nicht einmal die Wahl, welcher Coronatypus wir sein wollen.
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