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Vergewaltigungsprozess in FrankreichEr könnte wieder freikommen

In Frankreich verhängt ein Gericht 20 Jahre Haft im Fall Le Scouarnec wegen sexueller Gewalt gegen Kinder in 299 Fällen. Viele Opfer sind enttäuscht.

Die Urteilsverkündung im Falle Le Scouarnec wird von Demos begleitet, mit Bannern wie diesem am 28. Mai in Vannes Foto: AP Photo/Mathieu Pattier

Paris taz | Der frühere Chirurg Joël Le Scouarnec ist am Mittwoch vom Gericht in Vannes (Bretagne) wegen Vergewaltigungen und sexueller Gewalt gegen Kinder in 299 Fällen schuldig erklärt und zu 20 Jahren Haft verurteilt worden. Der Prozess hatte wegen der Person des Täters und der erschreckenden Zahl seiner minderjährigen Opfer Frankreich aufgewühlt und über Frankeich hinaus Beachtung gefunden.

Das Gericht hat als Zusatzstrafe angeordnet, dass der Verurteilte während zwei Dritteln dieser Zeit zum Schutz der Gesellschaft inhaftiert bleiben muss und somit nicht vorher (also theoretisch nach rund 13 Jahren Haftverbüßung) auf freien Fuß kommen kann.

Dass nicht eine längere Sicherheitsmaßnahme angeordnet wurde, hat einige Opfer des vor Gericht geständigen Straftäters schockiert. Sehr enttäuscht von der Urteilsverkündung hat Amélie Lévêque reagiert, sie war im Alter von 9 Jahren von Le Scouarnec sexuell missbraucht worden. Sie hatte neben der im Strafgesetz als Höchststrafe möglichen Gefängnisstrafe von 20 Jahren auch eine ebensolange Sicherheitsverwahrung erwartet.

„Ich habe das Gefühl, dass ich während sechs Jahren für nichts gekämpft habe“, erklärte Lévêque den sehr zahlreich anwesenden Medien. Denn es erschrecke und empöre sie zu wissen, dass der heute 74-jährige Le Scouarnec eventuell nach diesem Urteil eines Tages nach einer Haftentlassung auf der Straße spazieren gehen und womöglich ehemaligen Opfern begegnen könnte. Im selben Sinne hat sich die Vorsitzende des Vereins Face à l’inceste, Solène Podevin Favre, geäußert. Im Gerichtssaal hatten die Zivilkläger auf die Urteilsverkündung mit betroffenem Schweigen, Tränen und einigen Rufen „Honte à la justice!“ („Die Justiz muss sich schämen!“) reagiert.

Über die Taten Notizbücher angelegt

Francesca Satta, die Anwältin eines Teils der zivilen Ne­ben­klä­ge­r*in­nen fordert gestützt auf den Fall Le Scouarnec und die enorme Zahl seiner Untaten, dass das mögliche Strafmaß nach oben korrigiert werden müsse. Sie erklärte zudem, dass sie keineswegs überzeugt davon sei, dass Le Scouarnec „von seinen pädophilen Problematik geheilt“ und heute so einsichtig sei, wie er dies zuletzt aufgrund der dem Gericht vorliegenden Beweise und Aussagen sagte.

Er hatte selber in Notizbüchern mit Daten und Namen seiner Opfer aufgeschrieben, was er im Verlauf seiner Tätigkeit als Chirurg in der Pädiatrie in verschiedenen Krankenhäusern getan hat.

Der Verurteilte war beim Prozess geständig. Er hatte am Ende der Verhandlungen einige Worte der Reue gefunden. Er hat bereits gesagt, dass er keine Berufung einlegen wolle, damit die für seine heute erwachsenen Opfer traumatisierenden Anhörungen vor Gericht nicht wiederholt werden müssten.

Für viele von ihnen war der Prozess effektiv eine schmerzliche Prüfung, und es war kein Trost zu wissen, dass so viele andere ebenfalls von diesem Arzt missbraucht worden waren. Der Prozess Le Scouarnec ging allein schon wegen der Zahl der Opfer des pädophilen Verbrechers in die Kriminalgeschichte ein.

Es fehlt eine „nationale Politik der Prävention“

Welche Lehren kann die französische Gesellschaft aus diesem Prozess ziehen, und insbesondere das Gesundheitswesen, unter dessen Schutzmantel sich Le Scouarnec von 1989 bis 2014 an fast 300 Kindern vergriffen hat, von denen einige nach einem chirurgischen Eingriff noch betäubt waren?

Céline Mahuteau war 1991 im Alter von 7 Jahren von Le Scouarnec in einer Klinik vergewaltigt worden. Nach diesem Prozess kann sie es nicht verstehen, dass die Staatsführung, „die Politik“, einfach schweige. Laut der Regionalzeitung La Nouvelle République hat sie dem Staatspräsidenten, Emmanuel Macron, einen offenen Brief geschickt, in dem sie ihn daran erinnert, dass „alle Kinder des Landes in legitimer Weise erwarten dürften, dass der Präsident das Übel an der Wurzel packt“.

Zu diesem Zweck müsse eine „nationale Politik der Prävention“ entwickelt werden, außerdem müssten die Berufstätigen im Pflegebereich speziell für den Kontakt mit pädophilen Sexualtätern ausgebildet werden. Beim Prozess ist bekannt geworden, dass schon relativ früh ein Verdacht gegen Le Scouarnec wegen seiner perversen Neigungen aufkam, was ihn aber nicht daran hinderte, dank der Protektion gewisser Vorgesetzter seine Karriere als geachteter Chirurg fortzusetzen und dabei unzählige weitere Kinder sexuell zu missbrauchen.

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6 Kommentare

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  • "Beim Prozess ist bekannt geworden, dass schon relativ früh ein Verdacht gegen Le Scouarnec wegen seiner perversen Neigungen aufkam, was ihn aber nicht daran hinderte, dank der Protektion gewisser Vorgesetzter seine Karriere als geachteter Chirurg fortzusetzen und dabei unzählige weitere Kinder sexuell zu missbrauchen."

    www.wr.de/panorama...ch-gesprochen.html

    Die regionale Ärztekammer hatte Le Scouarnec nach einer ersten Verurteilung 2005 wegen pädophiler Akte weiterarbeiten lassen.

  • 74 plus 13 sind 87. Wenn ich es richtig verstehe, ist das das früheste, wann er wieder freikommen könnte.

    Ich weiß jetzt wirklich nicht, was daran "empörend" sein soll und warum es "umsonst" gewesen sein soll, sich dem Prozess zu stellen. Dieser Mann wird nie wieder sein Unwesen treiben können und ist öffentlich als jemand bekannt, der zu den schlimmsten Verbrechern des Landes gezählt werden sollte.

    Ist das wenig?

  • Dann freilassen, wenn er sich geändert hat bzw. wenn die rechtsgültige Strafe verbüßt ist. Wissen wir so sicher, ob sogar er die Kurve noch kriegen wird? Dafür wird ja auch noch mal geprüft, so mein Verständnis. Den Zugang als Arzt zu jungen Patientens sollte er auch nie mehr haben.

  • „Honte à la justice!“ („Die Justiz muss sich schämen!“ - Wenn man alle Fälle sexuellen Missbrauchs auflisten würde ( Kirche, Porno-Industrie inklusive ) - dann fragt man sich, wo wir heute stehen?

  • Die "Praevention" die mantra-artig bei jedem Justizversagen bemüht wird ist voellig witzlos, wenn Schwerverbrechern am Ende nur mildeste Konsequenzen winken.

    • @Deutsche_Steuerzahler_zahlen_pro_Jahr 11 Mio_an_die_AFD:

      Mildeste Konsequenzen? Mit hoher Wahrscheinlichkeit kommt dieser Mann nie wieder frei.