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Verfassungsgericht über PsychiatrieTrauma durch Fixierung

Dürfen Patienten in der Psychiatrie fixiert werden? Über den Einsatz dieser Maßnahme und mögliche Alternativen wird gerade in Karlsruhe verhandelt.

Auf dem Bett fixiert: „Für manche ist das der Tiefpunkt ihres Lebens“ Foto: dpa

Karlsruhe taz | „Eine Fixierung ist für die Betroffenen erniedrigend und entwürdigend“, erklärte Matthias Seibt vom Bundesverband der Psychiatrie-Erfahrenen am Dienstag bei der Verhandlung am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. „Für manche ist sie der Tiefpunkt ihres Lebens. Sie sind anschließend traumatisiert.“

Bei der häufigsten Form der 5-Punkt-Fixierung werden beide Arme und beide Beine am Bett festgebunden; dazu kommt ein Bauchgurt. Anschließend wird der Fixierte kontrolliert, entweder durch eine Sitzwache oder per Video-Überwachung.

Diese brachiale Maßnahme ist häufiger, als man denkt. Allein in Baden-Württemberg gab es in den Jahren 2015 und 2016 zwischen 2.700 und 4.000 Fixierungsfälle pro Jahr mit 700 bis 900 Betroffenen, berichtete die federführende Verfassungsrichterin Doris König.

Einer der beiden Fälle, über die Karlsruhe konkret entscheiden muss, kam aus Baden-Württemberg. Ein Schizophrenie-Patient war in Ludwigsburg binnen 13 Tagen immer wieder fixiert worden, weil er Gegenstände auf das Personal warf. Gegen die Fixierung erhob er nachträglich eine Verfassungsbeschwerde.

Mitarbeiter und Patienten schützen

Der zweite Fall kam aus München: Ein Mann in München war von der Polizei gegen Mitternacht betrunken ins Isar-Amper-Klinikum eingeliefert worden. Dort wurde er acht Stunden lang fixiert. Weil er hierfür keinen Schadenersatz bekam, erhob er ebenfalls Verfassungsbeschwerde.

In der Praxis wird die Fixierung vor allem bei erregt tobenden Patienten angewandt. „Wir müssen die Mitarbeiter schützen, aber auch die anderen Patienten“, sagte Peter Brieger, der ärztliche Leiter des Münchner Klinikums.

Oft bringt die Polizei aggressive Personen schon mit Handschellen in die Klinik. Neben psychisch Kranken werden so auch Alkohol- und Drogenkonsumenten eingeliefert. „Es gibt neue psychoaktive Substanzen, da toben die Betroffenen ein bis zwei Tage und sind extrem aggressiv“, so Brieger.

Gibt es Alternativen?

Die Richter interessierte vor allem, ob es Alternativen gibt, etwa wie in Großbritannien, wo Fixierungen nicht praktiziert werden. Dort stürzen sich jeweils vier gut trainierte Pfleger auf einen tobenden Patienten und halten ihn so lange fest, bis er sich beruhigt hat. „In 25 bis 50 Prozent der Fälle bekommt der Patient dann gegen seinen Willen eine Spritze zur Beruhigung“, berichtete Peter Lepping vom Centre for Mental Health and Society. „Das haben wir uns charmanter vorgestellt“, sagt Andreas Voßkuhle, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, und wirkte etwas ernüchtert.

Es zeigte sich aber auch, dass fehlendes Personal zu mehr Fixierungen führt. „Wenn der Aufnahmearzt genug Zeit hat, kann er mit dem Eingelieferten erst mal eine rauchen gehen, das hilft oft schon zur Beruhigung“, so Peter Brieger. „Wenn aber noch sieben weitere Patienten warten, ist das schwierig.“

Vermutlich wird Karlsruhe fordern, dass über Fixierungen künftig ein Richter entscheidet, zumindest nachträglich. Vorgeschrieben ist das bisher nur in Berlin, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Die Ärzte finden das auch gut, sie erhoffen sich mehr Legitimation für ihre Maßnahmen. Das Urteil wird in einigen Monaten verkündet.

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9 Kommentare

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  • Fixierungen und Zwangsmaßnahmen gibt es nicht nur in der Psychiatrie. Auch auf anderen Klinikstationen sind sie nicht unüblich: Fast bei jedem achten Patienten werden laut einer Studie solche Methoden angewandt. Manchmal mit verheerenden Folgen.

     

    //http://www.spiegel.de/gesundheit/psychologie/klinik-zwangsmassnahmen-gurte-und-gitter-gehoeren-zum-alltag-a-958440.html

    https://www.chemie.uni-hamburg.de/igtw/Gesundheit/images/pdf/Krueger_2013.pdf

    • @Stefan Mustermann:

      In einem Papier über ein geplantes Kinderheim erklärt Hamburg Zwangsmaßnahmen für rechtens – auch die Fixierung durch Klettbänder.

      http://www.taz.de/!5307098/

      http://www.taz.de/!5064465/

       

      Können Fixierungen und Zwangsmaßnahmen zu psychischen Störungen, dem Schock, dem Tod durch Fixierung, dem Selbstmord führen?

       

      Zwangsfixierungen gehörten nicht in einen Rechtsstaat!

  • »Vermutlich wird Karlsruhe fordern, dass über Fixierungen künftig ein Richter entscheidet.«

     

    Dass ist auch jetzt schon erforderlich. In KA geht es in Bezug auf den Bayerischen Fall darum, dass das Bayerische Landesrecht im Gegensatz zum zivilrechtlichen Bundesrecht keine Regelung für Fixierungen enthält, eine Fixierung aber als (krasseste Form der) Freiheitsbeschränkung einer gesetzlichen Grundlage bedarf, welche die Voraussetzungen und das Verfahren regelt.

     

    Der Richtervorbehalt allein wird in Bayern wenig bringen. Das zeigen zahlreiche zivilrechtliche Unterbringungsbeschlüsse. Effizienter wäre eine Schulung der AG-Richter. Denen geht oft jegliches Problembewusstsein oder jegliche Zeit für Problembewusstsein ab.

     

    Der zur Entscheidung vorliegende Bayerische Fall ist für Bayerische Verhältnisse leider »harmlos.« Aktenkundig sind aktuell Fixierungen von weit über 100 Stunden – ohne Unterbrechung und ohne gerichtlichen Beschluss.

     

    Fixierungen von solcher Dauer lassen sich übrigens nicht einmal per Gerichtsbeschluss legitimieren, weil sie als letztes Mittel immer nur für den absolut unerlässlichen Zeitraum zulässig sind.

  • Gibt es Alternativen?

     

    Sehr einfach!

     

    Ein Patient kann in einem Zimmer allein eingesperrt werden, wo er allein ist und keine Verletzungsgefahr besteht. D.h. der Boden und die Wende mit weichen Materialien müssen abgedichtet werden, damit der kranke Mensch sich selbst nicht verletzen kann, und nicht aus dem Fenster springen kann...

    • @Stefan Mustermann:

      Sowohl Fremdgefährdung (andere Patienten, Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger) als Eigengefährdung wäre durch Isolierung im "gepolsterten" Zimmer ausgeschlossen!

      • @Stefan Mustermann:

        Oldenburger Stachel schrieb in Februar 2002: "Mehr als 500 Menschen sterben jährlich in Deutschland an den Folgen durch die Vergabe von Psychopharmaka. Dies wird von Ärzten zugegeben (Quelle: Statistisches Jahrbuch)."

         

        Es wäre also keine gute Alternative zu Isolation. Vielmehr muss die Verabreichung von Beruhigungsmitteln besser kontrolliert und vertiefter – auch nachträglich – untersucht werden!

  • Tödliche Fesseln: Zwangsfixierung in psychiatrischen Einrichtungen

     

    Es ist hinreichend bekannt, dass jede psychiatrische „Fürsorge“ auf den Erhalt des Lebens und nicht auf dessen Beendigung hinwirken sollte. Niemand würde daher annehmen, dass Patienten in psychiatrischen Kliniken zu Tode kommen. Jedoch geschieht genau das tagtäglich auf der ganzen Welt – still und leise –, und zwar unter der Obhut von Psychiatern in psychiatrischen Einrichtungen.

    http://www.cchr.de/cchr-reports/deadly-restraints/introduction.html

     

    Klinikum Bremen-Ost,

    Nach gewaltsamer Fixierung: Psychiatrie-Patient stirbt

    12.05.2017

    https://www.weser-kurier.de/bremen/bremen-stadt_artikel,-nach-gewaltsamer-fixierung-psychiatriepatient-stirbt-_arid,1597350.html

     

    Ärzteblatt zu Todesfällen bei Gurtfixierungen, Schlussfolgerungen: "Zur Verhinderung von Todesfällen wird aus gerichtsmedizinischer Sicht dringend empfohlen, alle Möglichkeiten von Alternativen zu FEM auszuschöpfen. Falls körpernahe Fixierungen dennoch unvermeidbar sind, müssen diese vorschriftsmäßig angewandt und die Betroffenen verstärkt beobachtet werden."

    https://www.aerzteblatt.de/archiv/118941/Todesfaelle-bei-Gurtfixierungen

    • @Stefan Mustermann:

      Vom 1. Januar 1997 bis zum 31. Dezember 2010 wurden am Institut für Rechtsmedizin München im Auftrag der Staatsanwaltschaft und der Verwaltungsbehörde insgesamt 27 353 Sektionen durchgeführt. Darunter wurden 26 Verstorbene obduziert, die zum Zeitpunkt des Todes durch Gurte fixiert waren.

       

      Die Todesart war in diesen Fällen von Leichenschauärzten als „ungeklärt“ beziehungsweise „nicht natürlich“ attestiert worden. Die Obduktionsbefunde, Krankengeschichten, Pflegedokumentationen und die Gerichtsakten einschließlich der polizeilichen Ermittlungsberichte wurden retrospektiv ausgewertet.

      Der Tod war 22-mal allein auf die jeweilige Fixierung zurückzuführen.

      https://www.aerzteblatt.de/archiv/118941/Todesfaelle-bei-Gurtfixierungen