piwik no script img

Vererbte Last der MigrationWas an uns kleben bleibt

Wie viel Verantwortung tragen wir für das Glück unserer Eltern? Kinder von Migrant:innen spüren oft besonders viel Druck, Erwartungen zu erfüllen – selbst im Urlaub.

Viel Raum zum Nachdenken, vor allem über das eigene Leben: an der Oder in Brandenburg Foto: Patrick Pleul/dpa

L etzte Woche war ich ein paar Tage in Brandenburg, wie es sich für pandemiereisesensible Berliner:innen gehört. Mit einer alten Freundin habe ich eine modernisierte Gartenlaube zwischen fünf Seen gemietet.

Morgens waren wir baden, tagsüber sind wir in Klatschmohnlandschaften hineingewandert, später haben wir von limonengrünen Liegestühlen aus der Sonne beim Verschwinden zugesehen und abends gossen wir uns gegenseitig Rosé nach, rauchten Marlboro Gold und wickelten unsere Beine in Tagesdecken von Ikea, um sie vor den Mücken zu schützen.

Wir haben gelesen (sie „Miteinander Reden: 1“ von Friedemann Schulz von Thun, ich „Erinnerungen eines Mädchens“ von Annie Erneaux), und uns Ameisen und Cantuccinikrümel von den Bäuchen geschnipst. Außerdem haben wir über Dinge geredet, die wir lange wissen, aber noch nie ausgesprochen haben. Über Hoffnung, die an uns klebt und die sich nicht wegschnipsen lässt.

Es gibt Dinge, die tut man, damit andere glücklich sind. In die Kirche gehen, weil Opa sich das so wünscht, obwohl das kollektive „Vater Unser“ ein flaues Gefühl im Magen macht. Der eine Familienurlaub im Jahr, nach dem man direkt nochmal Urlaub bräuchte. Aber gut, den Liebsten zuliebe, sind ja auch nur ein paar Tage. Aber was, wenn es ein ganzes Leben ist?

Vor der Gartenlaube reden wir über die Last, die wir nicht loswerden. Das Gefühl, für die Erfüllung des elterlichen Glücks zuständig zu sein. Wir stellen fest, dass die Last eine universelle ist. Wir sagen Sätze wie „Klar fühlen alle diese Verpflichtung gegenüber den Menschen, von denen sie in die Welt gesetzt worden sind“ und „Es kann doch niemand sein ohne das, was die Eltern waren“.

Stabile Berufe wählen

Wir schmieren unsere Mückenstiche mit Tigerbalsam ein und stellen fest, dass die Last auch eine spezifische ist. Dass wir uns überdurchschnittlich verantwortlich dafür fühlen, dass die Lebensgeschichte unserer Eltern gelingt. Ich sage: „Weiß nicht, ob Ma ein besseres Leben in Deutschland wollte. Vielleicht wollte sie einfach ein anderes“, und meine Freundin sagt: „Es ist kein Zufall, dass meine Geschwister und ich stabile Berufe gewählt haben.“

Was macht das mit dir, wenn deine Eltern für sich und für dich die Zelte abgebrochen haben? Wenn sie an einen Ort gingen, um dort ewige Anfänger:innen zu sein, obwohl sie das Leben schon einmal durchgespielt hatten?

Vielleicht macht es dich zu einer Hülle für alles, was sie hoffen. Du trägst nicht die Hoffnung, sie füllt dich aus, das ist schön und schwer. Wo wird Verantwortung zu Schuld, wie viel Abhängigkeit ist Zuhause und wie viel Gefängnis?

Ma wünscht sich zum Geburtstag nie mehr als meine Anwesenheit. Ich frage trotzdem immer, dieses Jahr schreibt sie: „Zum 66. Geburtstag muss eine Tochter ihrer Mutter 66 Stück Fleisch zubereiten.“ Ehrlich gesagt würde ich lieber 66 Johannisbeeren pflücken, oder mich 66-mal vor Ma verbeugen. Aber wahrscheinlich werde ich Fleisch schneiden, der Liebsten zuliebe.

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen

Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag. Foto: Amelie Kahn-Ackermann
Mehr zum Thema

0 Kommentare