Verdrehte Fakten in Belarus: Streisand-Effekt auf Belarussisch

Die Machthaber schaden sich durch ihr Tun selbst. Das vereint die Nation. Janka Belarus erzählt vom Leben in Minsk in stürmischen Zeiten. Folge 39.

Menschen mit Blumen während eines Gedenkgottesdienstes für den Verstorbenen Roman Bondarenko

Menschen in Minsk während eines Gedenkgottesdienstes für den Verstorbenen Roman Bondarenko Foto: BelaPAN/reuters

Aktuell erleben wir in Belarus täglich den Streisand-Effekt, ein soziologisches Phänomen, bei dem der Versuch, eine bestimmte Information nicht an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, nur dazu führt, dass diese Information noch stärker verbreitet wird. Und das, was die Machthaber jetzt tun, erscheint nicht nur inkompetent und – wie man so sagt – als ob „sie sich selbst ins Knie geschossen“ hätten, sondern sie schaden sich durch ihr unbesonnenes Handeln vor allem selbst.

Hier ein paar Beispiele: Der Untersuchungsausschuss eröffnet ein Strafverfahren gegen den Arzt Artjom Sorokin und die Journalistin Katerina Borisewitsch wegen Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht. Ein Strafverfahren wegen der Ermordung Roman Bondarenkos (Minsker Aktivist, der Mitte November nach Misshandlunen durch Sicherheitskräfte starb; Anm. d. Redaktion) gibt es nicht.

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Es ist widerlich, dass auf höchster Ebene nicht nur versucht wird, den infolge von Schlägen durch Sicherheitskräfte Verstorbenen zu verunglimpfen und die Tagesordnung so zu verdrehen, dass man das eigentliche Problem aus den Augen verliert. Man präsentiert Untersuchungsergebnisse: es sei Alkohol im Urin gefunden worden, es heißt, der Verstorbene sei kein Heiliger gewesen, deshalb …

Aber Entschuldigung, für die Geschichte ist es nicht wichtig, ob dieser spezielle Mensch getrunken und geraucht hat oder wie sehr er von ihm nahestehenden Menschen geliebt wurde. Wichtig ist, wer ihn umgebracht hat und warum. Als Referenzwert: Ethanol im Urin findet man bei 9 von 10 Toten, weil im menschlichen Organismus Fermentationsprozesse ablaufen, bei denen Alkohol entsteht. Ethanol im Urin ist kein Indikator dafür, dass ein Mensch Alkohol getrunken hat. Aber Lukaschenko fürchtet einen Märtyrertod, durch den es zum Sturz des „starken Führers“ kommen könnte.

Darum eilige Order: Desakralisierung, egal wie. Per Fernsehübertragung. Und was haben sie damit erreicht? Ärzte und Journalisten gingen mit Plakaten „Null Promille“ demonstrieren und stellten sich mit erhobenen Armen und dem Gesicht zur Wand auf, wie Strafgefangene. Dieser Solidaritätsaktion schlossen sich andere, nicht gleichgültige Belarussen an. Denn die null Promille Alkohol, die bei Roman im Blut gemessen wurden, zeigen, dass der Mann nüchtern war. In so einem Zustand kann man Auto fahren, ein Flugzeug steuern, ein Atomkraftwerk leiten und sogar einen Staat regieren.

Und jetzt stellen Sie sich vor, dass in einem weihnachtlich geschmückten Schaufenster des KaDeWe eine Elfenfigur mit einem Wunschzettel zu sehen wäre, auf dem unter anderem „Freiheit“ steht. Wäre das in Berlin möglich? Im Minsker Zentralkaufhaus nämlich schon. Ein Foto von diesem Schaufenster kursiert übrigens schon im Internet und wird dort heftig diskutiert.

Den Paragrafen 23.34 „Störung der öffentlichen Ordnung oder Durchführung einer Massenveranstaltung“ lesen wir heute als „nationalen“. Denn genau nach diesem Paragrafen werden tausende Staatsbürger verurteilt, verhaftet und bestraft. Eine solche Verurteilung ist nicht peinlich. Im Gegenteil, wir halten sie, ähnlich wie einen Coronatest, bei manchen fast schon für obligatorisch. Man sollte sich dazu mit gebührender Ironie verhalten.

Wie das Mädchen Dascha zum Beispiel, die sagt: „Jetzt bin ich eine richtige Belarussin! ✌️ 14 Tage. Zweimal für je 24 Stunden ohne Essen und Wasser. 10 Tage ohne persönliche Habseligkeiten. 14 bis 22 unglaubliche Mitgefangene auf 14 Plätzen. Die Ausstattung irgendwas zwischen altem Hauseingang, Pferdestall und verlassenem Wohnhaus (schwarzer Schimmel, Feuchtigkeit, nach Urin stinkende Matratzen, nur kaltes Wasser, nasser Betonfußboden). Bis zu den Massenverhaftungen wurden diese Räume als Toiletten und zum Rauchen genutzt.

Aber durch die Menschen dort wurden es wunderbare Tage. Wir haben gesungen, Sport gemacht, vorgelesen, ‚Mafia‘ gespielt (Intellektuellen-Spiel, in dem man herausfinden muss, wer friedlicher Mitbewohner und wer Gangster ist; Anm. der Autorin) und sehr viel gelacht und geredet. Die Gefängnisse sind voll mit den besten Leuten und wir werden immer stärker und freundlicher zueinander. Macht es ‚sie‘ wütend, dass wir fröhlich und mutig sind?“

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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ist 45 Jahre alt und lebt und arbeitet in Minsk. Das Lebensmotto: Ich mag es zu beobachten, zuzuhören, zu fühlen, zu berühren und zu riechen. Über Themen schreiben, die provozieren. Wegen der aktuellen Situation erscheinen Belarus' Beiträge unter Pseudonym.

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