Verdrängung im Westjordanland: Ein Dorf mit Symbolkraft
Israel will das Dorf Khan al-Ahmar abreißen. Die Beduinengemeinde ist zum Symbol der Palästinenser gegen die israelische Besatzung geworden.
Wenige Schritte weiter, auf einem perfekt ausgebauten Highway, brausen die Autos in Richtung Jerusalem. Keine 30 Minuten liegen zwischen dem palästinensischen Beduinendorf Khan al-Ahmar und dem Zentrum der heiligen Großstadt. Aus dieser ist Khalil Mahmud Ali Jaber angereist. Mit dem Hemd in der Hose und seinen schwarz polierten Herrenschuhen wirkt er fremd zwischen den ärmlichen Verschlägen der Beduinen.
„Ich bin nach Khan al-Ahmar gekommen, um neuen Teppich in der Moschee zu verlegen“, erklärt er. Zusammen mit einem Schulgebäude gehört die Moschee von Khan al-Ahmar schon zu den solideren Bauten im Dorf. Ein Metallcontainer schützt die Gläubigen vor Sonne und Regen. Als Minarett dient ein Holzpfosten mit aufmontiertem Lautsprecher.
„Ob’s die Moschee nächste Woche allerdings noch gibt, weiß ich nicht“, sagt Ali Jaber. Jederzeit könnte Khan al-Ahmar dem Wüstenboden gleichgemacht werden. Die Leitplanken des Highways, die die Schulkinder vor dem Verkehr schützen sollen, haben die Israelis bereits niedergerissen. Der Weg ist frei für die Bulldozer.
„Es geht hier nicht um die Häuser und Leute von Khan al-Ahmar“, sagt Ali Jaber. „Das eigentliche Problem ist, dass die Juden immer weiter vordringen. Sie wollen hier Siedlungen bauen. Es geht um Hunderte Hektar Land.“ Kaum hat er seinen Satz beendet, erscheint eine Gruppe Menschen am Horizont, weit oben auf dem Hügel hinter der Moschee, umringt von Uniformierten. Kurz ist Aufregung im Dorf zu verspüren. „Sie machen bereits Pläne für die Zerstörung“, ist sich Ali Jaber sicher.
Wann kommen die Bulldozer?
Heute Nacht? Morgen früh? Wann die Bulldozer kommen, weiß niemand in Khan al-Ahmar. Israels Oberstes Gericht hat grünes Licht für die Zerstörung gegeben. Die Civil Administration, der zivile Arm der Militärbesatzung im Westjordanland, forderte die Beduinen auf, ihre Hütten selbst niederzureißen und das Dorf, in dem sie seit Jahrzehnten wohnen, zu verlassen. Die Bewohner von Khan al-Ahmar taten: nichts.
„Wir gehen nicht“, sagt Eid Abu Khamis Dschahalin entschlossen. Wie fast alle in Khan al-Ahmar ist der 52-Jährige, der sich als Sprecher der Gemeinde vorstellt, hier vor den Toren Jerusalems geboren. Mit Kippe in der rechten und Kaffee in der linken Hand beantwortet Abu Khamis geduldig die Fragen der Journalisten. Warum zieht er nicht um, will einer wissen, so wie es die israelische Regierung vorgeschlagen habe. Abu Khamis schüttelt den Kopf: „Warum ziehen die Siedler nicht woanders hin? So wie vereinbart.“
Vereinbart waren die israelischen Siedlungen, von denen die Beduinen im Norden und Süden, im Osten und Westen eingeschlossen sind, in der Tat nicht. Das Westjordanland gehört den Palästinensern, hieß es bereits im sogenannten Teilungsplan der Vereinten Nationen von 1947. Bekräftigt wurde dies in den 1990er Jahren, als sich Palästinenser und Israelis erstmals gegenseitig anerkannten. Zwei Staaten für zwei Völker, lautete das Ziel.
Bis heute halten Israels Regierung und die Palästinensische Autonomiebehörde an der Zweistaatenlösung fest, offiziell jedenfalls, wie auch die Vereinten Nationen, die EU und – auch wenn Donald Trump diese Grundfeste der amerikanischen Nahost-Politik infrage gestellt hat – die US-Regierung.
Ein übel riechender See
Doch die Fakten sprechen eine andere Sprache. Wie überall im Westjordanland ragen die aufgeräumten Häuserreihen der jüdischen Siedlungen auch auf den Gipfeln um Khan al-Ahmar in die Höhe. Anfangs hätten sich einige Einzelpersonen aus der benachbarten Siedlung Kfar Adumim solidarisch gezeigt mit den Beduinen, erzählt Abu Khamis. Mittlerweile gebe es aber keinen Kontakt mehr zwischen den Siedlern und den Palästinensern. Ganz im Gegenteil: Anfang des Monats überraschte die Bewohner von Khan al-Ahmar ein übel riechender Abwassersee am Fuße des Dorfes.
Über einen Mangel an Solidarität können sich die Beduinen dennoch nicht beschweren. Die EU hat sich gegen den Abriss ausgesprochen. Auch die Vereinten Nationen plädierten dafür, das Dorf und seine Schule, in der rund 150 Kinder aus der Region lernen, zu erhalten. Den israelischen Verteidigungsminister Avigdor Lieberman bewegte die internationale Solidarität dazu, sich gegen die „eklatante Einmischung“ in Israels Angelegenheiten auszusprechen.
Von „Zwangsumsiedlung“ will Lieberman, der sich in einem Meinungsbeitrag in der Jerusalem Post ausführlich äußerte, nichts hören. Die Hütten in Khan al-Ahmar seien illegal errichtet worden. Verächtlich schrieb er von einer „kleinen Gruppe von Besetzern“ und plädierte für die Umsiedlung in „richtige Wohnungen“.
Die Regierung hatte den Beduinen den Umzug in einen nahe gelegenen Vorort Jerusalems vorgeschlagen. Dass die Behörden systematisch die Errichtung palästinensischer Infrastruktur in den von Palästinensern bewohnten, aber unter israelischer Militärkontrolle stehenden Gebieten des Westjordanlands verhindern und Bauanträge in aller Regel ablehnen, erwähnte Lieberman allerdings nicht. Auch die symbolisch bedeutsame Lage vor dem von Israel völkerrechtswidrig annektierten Ostteil Jerusalems verschwieg der Verteidigungsminister.
„Jerusalem ist unsere ewige Hauptstadt – und Khan al-Ahmar eine rote Linie“, steht auf einem Plakat in einem Zelt zwischen der Schule und den Wohnverschlägen, unter dem Dutzende Aktivistinnen und Unterstützer ausharren. „Diese Gegend ist besonders wichtig“, erklärt Dorfsprecher Abu Khamis seine Weigerung, das israelische Angebot anzunehmen und umzusiedeln. Khan al-Ahmar, so die Befürchtung, könnten andere Dörfer folgen.
Von Ostjerusalem abgeschnitten
Würden sich die jüdischen Siedler in dem Gebiet weiter festsetzen, wäre ein großes, zusammenhängendes Gebiet östlich von Jerusalem für die Palästinenser verloren. Das Westjordanland, in dem die ursprüngliche palästinensische Bevölkerung immer mehr in isolierten Enklaven zusammengedrängt und durch die israelische Sperrmauer, eine teilweise segregierte Infrastruktur und ein ausgereiftes Checkpoint-System kontrolliert wird, wäre vom palästinensischen Ostjerusalem weitgehend abgeschnitten. In der Siedlung Ma’ale Adumim, mitten im Westjordanland, leben schon heute 40.000 Menschen. Nach internationalem Recht ist sie illegal.
Etwa vierzig Autominuten von Khan al-Ahmar entfernt, in Bethlehem, spielen einige Mädchen in den Straßen eines palästinensischen Flüchtlingslagers. Auch sie haben von dem bedrohten Beduinendorf und seinen rund 180 EinwohnerInnen schon gehört. „Khan al-Ahmar“, prangt in großen weißen Lettern auf ihren T-Shirts. Für den Sozialarbeiter und Aktivisten Munther Amira, der in der Nachbarschaft ein Jugendzentrum betreibt, ist der drohende Abriss nur ein weiterer Schritt der Israelis, die Palästinenser aus ihrer Heimat zu vertreiben.
Amira besteht darauf, Flüchtling zu sein, auch wenn das „Lager“, in dem er lebt, längst zu einem ärmlichen, aber festen Stadtteil Bethlehems geworden ist und die provisorischen Zelte robusten, mehrstöckigen Häusern gewichen sind. Über der Straße vor dem Jugendzentrum hängt ein großer Schlüssel. Er symbolisiere das Recht auf Rückkehr der von Israel Vertriebenen in ihre Heimatdörfer, sagt Amira.
„Was 1948 passierte, ist das Gleiche wie heute in Khan al-Ahmar.“ Deshalb sei das Beduinendorf zu einem „Thema für alle Palästinenser“ geworden. Seit fast vier Monaten schlafe er nur noch eine Nacht pro Woche zu Hause in Bethlehem, den Rest verbringe er in Khan al-Ahmar. „Sie werden nachts kommen“, ist sich Amira sicher, „und wir werden sie mit unseren Körpern stoppen.“
Immer mittwochs kommen die Ärzte
Es ist der große Kontext der sogenannten Nakba, der Vertreibung der Palästinenser im Zuge der Staatsgründung Israels, in den auch Abed Gharib das kleine Dorf einordnet. „Damals konnte ich nichts tun“, sagt der erst 23-Jährige, der als Freiwilliger der Hilfsorganisation Palestinian Medical Relief Society (PMRS) nach Khan al-Ahmar gekommen ist. Gharibs Vorfahren lebten einst in Jerusalem, wurden vertrieben. „Heute passiert das Gleiche in Khan al-Ahmar.“
Seit zehn Jahren arbeitet Gharib für PMRS, das in den besetzten Gebieten die Gesundheitsversorgung aufrecht zu erhalten versucht und in Khan al-Ahmar eine mobile Klinik betreibt. Immer mittwochs kümmern sich die Ärzte um Bronchitis und Durchfallerkrankungen, um Erkältete und Hepatitis-Patienten.
Doch wie so vieles im besetzten Westjordanland geht es auch hier um Politik, nicht allein um medizinische Hilfe. „Wir sind bereit“, sagt Gharib. Jede Nacht schlafen die Freiwilligen in einem Pavillon am Rande von Khan al-Ahmar. Die Bulldozer, ist er sich sicher, werden nicht allein kommen. Polizei und Militär werden sie begleiten, um den Widerstand zu brechen. Erste Verletzte und Verhaftete hat es bereits gegeben.
Wenn es ernst wird, wollen die Freiwilligen von PMRS vor Ort sein – nicht nur um Wunden zu verbinden und Verletzte nach Jericho und Ramallah zu fahren. Sie wollen Präsenz zeigen. Es geht um das physische Dasein. Zumindest das haben sie mit den israelischen Siedlern, die sich überall im Westjordanland ausgebreitet haben, gemeinsam.
Der Besuch des Westjordanlands fand im Rahmen einer Pressereise von Medico International statt. Die Hilfsorganisation arbeitet mit PMRS zusammen.
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