Verdacht auf Jour­na­lis­ten-Vergiftungen: Auch in Europa keine Sicherheit

Wurden russische Jour­na­lis­t*in­nen seit 2022 im Ausland vergiftet? Vieles spricht dafür, sagt der Chefredakteur des Exilmediums „Meduza“.

Eine Frau mit Blutdruckmessgerät um den Arm

Im Dezember musste Jelena Kostjutschenko in der Berliner Charité behandelt werden Foto: Screenshot Instagram

BERLIN taz | „Ja, Lena erholt sich noch, physisch und psychisch“, erzählt Iwan Kolpakow, Chefredakteur des 2014 in Riga (Lettland) gegründeten Exilmediums Meduza im Gespräch mit der taz. Er meint Jelena Kostjutschenko, russische Journalistin, die für die unabhängigen Medien Nowaja Gaseta und Meduza schreibt, und die bis vor kurzem im Berliner Krankenhaus Charité behandelt wurde. Verdacht: Vergiftung.

Ein Déjà-vu. Auch der Oppositionspolitiker Alexei Nawalny lag im Jahr 2020 in der Charité. Ebenfalls im Berliner Krankenhaus lag wegen Vergiftung der Publizist und Mitglied der Pussy Riot-Gruppe Pjotr Wersilow. „Ein guter Freund von mir“, sagt Kolpakow. Die Liste der im Auftrag der russischen Regierung vergifteten Aktivisten ist lang.

Nun wurde das wieder zum Thema, weil das russische unabhängige Medienportal The Insider eine Recherche über die Vergiftungen von drei Journalisten und Aktivisten veröffentlicht hat. Eine von ihnen, Jelena Kostjutschenko, in München im Oktober 2022. Im Gespräch mit Kolpakow taucht die Frage auf, ob die Vergiftung zu 100 Prozent bestätigt wurde. „Noch nicht, aber Ärzte, die lange darüber recherchieren, haben den Verdacht.“ Der Kontext und die vorhandenen Bedrohungen dieser Journalistinnen seien diesbezüglich ausschlaggebend, erzählt der Meduza-Chefredakteur.

Die Journalistin Kostjutschenko hat als Nachklapp der Recherche ihre Geschichte selber auf Meduza erzählt. Am Anfang des Krieges reiste sie in die Ukraine, um über die russischen Kriegsverbrechen zu berichten. Als sie dann nach Mariupol weiterfahren wollte, bekam sie einen Anruf des Chefredakteurs der Zeitung Nowaja Gaseta, Dmitri Muratow: „Eine meiner Quellen hat mich kontaktiert. Sie wissen, dass du nach Mariupol gehst, und sie haben mir gesagt, dass Kadyrows Männer den Befehl erhalten haben, dich zu finden“, sagte Muratow zu ihr.

Später rief er wieder an: „Fahre bitte nicht nach Russland zurück: Dein Leben ist in Gefahr.“ Der Machthaber der russischen Teilrepublik Tschetschenien gilt als engster Verbündeter des russischen Präsidenten Wladimir Putin und als einer der größten Befürworter des russischen Angriffskrieges.

Auch in Westeuropa sind russische Agenten aktiv

„Jelena wollte gar nicht Russland verlassen, aber sie hatte keine andere Wahl“, erzählt der Meduza-Chefredakteur. Kolpakow beschreibt, wie ein Netzwerk von russischen Agenten in mehreren Ländern aktiv sei – in Botschaften, Unternehmen, als Hacker, als Unterstützer von prorussischen Organisationen.

„Jeden Monat wird über einen neuen Spion berichtet: Der Krieg hat die Lage nicht verändert. Auch in Westeuropa: Deutschland, die Schweiz und Österreich sind an erster Stelle“, betont er. In Europa sei man auch nicht sicher. „Das ist ein falsches Gefühl, das viele Rus­s*in­nen bekommen. Wir brauchen Schutz“, appelliert der russische Journalist an die westlichen Regierungen. Er hat Russland bereits 2014 verlassen, weil er seinen Beruf nicht frei ausüben konnte. Lange hat er in Lettland gelebt, nun will er aus Sicherheitsgründen nicht verraten, wo er sich in Europa aufhält.

Im Interview für das russischsprachige Medienportal Nastojaschee Vremja erklärt der Chefredakteur von The Insider, Roman Dobrochotow, Einzelheiten der Untersuchung, die sein Medium initiiert hat. In zwei der drei Vergiftungsfällen sei es kein Nowitschok gewesen – Gift, das durch Nawalny, aber auch zuvor durch den Angriff gegen die Skripals 2018 bekannt wurde. „Aber das ist natürlich eine Frage der Dosierung. Alle diese Gifte, die wir verdächtigen, sind in großen Dosen tödlich. Im Fall von Kostjutschenko hatten sie eher Pech“, beurteilt Dobrochotow.

Jelena Kostjutschenko wurde wahrscheinlich vergiftet, als sie unterwegs nach München war. Und Natalia Arno, Präsidentin der Free Russian Foundation, in einem Hotel in Prag. Der Geheimdienst greife oft an, wenn die Menschen unterwegs sind, allein, weit weg von zu Hause, von Verwandten, Freunden, Kolleg*innen, erzählt der Meduza-Chefredakteur. „An erster Stelle sollte Europa das Problem erwähnen und anerkennen. Das wäre ein erster Schritt, um den Exil­rus­s*in­nen zu helfen“, sagt Kolpakow, denn es sei hart für russische Jour­na­lis­t*in­nen und Aktivist*innen, die sich in ­Europa befinden.

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