Protest von allen Seiten

Seit sich Venezuelas Präsident Maduro mit zweifelhaften Daten zum Wahlsieger erklärt hat, wächst die Wut. Die Opposition mobilisiert zu Großdemonstrationen, auch die Regierung ruft ihre An­hän­ge­r:in­nen auf die Straße

Die meisten Proteste gegen die offiziellen Wahlergebnisse in Venezuela verliefen am Montag friedlich. Manche nicht , wie hier in Caracas Foto: Matias Delacroix/ap

Aus Caracas Sarah Himmel

In Venezuelas Hauptstadt Caracas schmeckt am Dienstag vieles nach Konfrontation. Die Opposition hat zu einer Großdemonstration aufgerufen, um gegen die ihrer Ansicht nach gefälschten Wahlergebnisse zu protestieren, auch die Regierung will ihre An­hän­ge­r:in­nen auf die Straße bringen. Schon am frühen Dienstagmorgen kursierten Videoaufnahmen, die hunderte Demonstrierende am interna­tio­nalen Flughafen zeigten.

Am Montagmorgen nach der Wahl herrschte in Caracas zuerst Totenstille. Bis in die frühen Morgenstunden hatte es gedauert, bis der Wahlrat CNE das hochumstrittene Ergebnis veröffentlichte und Maduro mit deutlichem Abstand zum Präsidenten erklärte, entgegen allen Umfragen vor der Wahl, entgegen den Nachwahlerhebungen der Opposition und ohne die analogen Wahlunterlagen vorzulegen.

Am Vormittag ertönen in die Stille die ersten Cacerolazos. Das metallische Klopfen ist typisch, wenn Menschen in Lateinamerika zum friedlichen Protest auf Töpfe und Pfannen schlagen. Der Klang des Kochgeschirrs erklingt in den armen Barrios in Caracas genauso wie im Reichenviertel Altamira. Von einem Wohnblock zum nächsten zieht der Ruf. Es ist der Protest aus dem Fenster, vom Balkon, mit sicherem Abstand.

Im Laufe des Tages kommt es im ganzen Land auf der Straße zu Protesten.

In der Hauptstadt Caracas füllt sich die Avenida Francisco de Miranda mit Motorrädern und Menschen. Was erst wie eine kleine Kundgebung auf der Plaza de Altamira aussieht, wird zum Riesenmarsch. Mit Musik und Volksfeststimmung und großem Ernst.

„Ganz Petare kommt jetzt herunter“, sagt eine Frau der taz, die sich dem Menschenstrom mit ihren Freundinnen anschlossen hat. Als sie mitbekam, dass die Nachbarn losmarschierten, ging sie mit, erzählt sie. Sie ist Buchhalterin und trägt eine Venezuela-Fahne um die Schultern. „Ich wäre Mittelschicht, wenn es in diesem Land noch eine geben würde.“ Auch für sie ist klar: „Sie haben die Wahlen gestohlen. Sie wissen, dass sie verloren haben.“

Sie wohnt direkt unterhalb des riesigen Armenviertels Petare, das lange als Hochburg des Chavismus galt. Maduros ewige Rede ist, dass die Opposition aus lauter Reichen und Privilegierten besteht, die den Armen ihre Essenspakete wegnehmen wollen. Und nur er die Armen retten könne.

Jetzt kommen diese Armen in die Stadt herunter, um aller Welt zu zeigen, dass das nicht stimmt. Dass sie ihn nicht wollen. Sie ­haben genug von subventionierten Essenspaketen und Gutscheinen. Sie wollen einen Lohn, von dem sie sich ihr Essen selbst kaufen können. Dazu die Wut über den Wahlbetrug, der für sie alle offensichtlich ist.

„Wir haben gewonnen. Ich war Zeugin“, „Wir Nachbarn aus dem Barrio wollen dich nicht. Verschwinde endlich, Maduro!“ steht auf Plakaten. „Petare presente, Edmundo Presidente!“, „Freiheit“, „Diese Regierung wird stürzen“, rufen die Münder. Dazu Vuvuzelas, Töpfe, Stangen, um an Laternenmasten zu schlagen, und alles, was Krach macht. Dazwischen immer wieder röhrende Motorräder, auf die sich ganze Kleinfamilien gequetscht haben, Hupen, Pfeifen.

Es sind viele junge Menschen mit dunklerer Hautfarbe, Frauen mit bauchfreien Tops und Piercings, Leggins und Jogginghosen, Männer in Shorts und Badelatschen und löchrigen Schuhen, Käppis und Tätowierungen. Aber auch Mittelalte in Karohemden und Sneakern, alte Damen mit Sonnenbrillen, Familien mit Kindern, Typen, die aussehen, als ob sie im Hipster-Café in einen Laptop tippen. Viele tragen Venezuela auf der Brust, als Fahne mit sich. Den Patriotismus hat der Madurismus definitiv nicht gepachtet. Vereinzelt haben Männer ihren Kopf verhüllt – gegen die Karibiksonne oder die Blicke?

Was sie am meisten erschöpfe, sei die Ungewissheit, sagt eine Frau. Dass sie nicht für die Zukunft planen kann in diesem Land. 24 Jahre ist sie alt. „25 Jahre Chavismus“, sagt sie leise. „Hoffnung“ ist das, was da vor ihren Augen passiert.

Eine Schülerin ist mit Mutter und ihrem kleinen Bruder gekommen. „Ich will, dass Maduro geht, dass mein Vater von seinem Gehalt leben kann.“ Fünf Stunden sind sie zu Fuß aus Petare hergelaufen, haben auch kein Geld, um zurückzufahren, sagt die Mutter. Dürr sind sie alle drei.

Eine alte Dame mit Silberlöckchen schlägt mit einem Stock rhythmisch auf einen Laternenmast ein, geradezu kathartisch: „Jetzt! Hau! Schon! Ab!“

Die Geschäfte haben die Metallrollläden heruntergelassen, manche die Zäune geschlossen, auch aus Angst vor Vandalismus. Aber stundenlang ziehen Tausende vorbei, ohne sich ihnen überhaupt zu nähern. Als gegen Ende des Nachmittags doch ein paar Jungs eine Werbetafel an einer Bushaltestelle aushebeln, bekommen sie es mit ­einer Frau zu tun: „Wir wollen mit Maduro Schluss machen, nicht mit Caracas!“

An einer Abzweigung kokelt mitten auf der Straße eine Plastiktüte mit Maduro-Wahlplakaten. Überhaupt sind die Wahlplakate verschwunden. Die Rauchschwade sieht aus der Ferne aus wie ein Tränengasangriff.

Stundenlang strömen immer mehr Menschen zu Fuß und auf Motorrädern in die Stadt. Nach allem, was man erfragen kann, hat sich das großteils spontan ergeben. Es gab keinen Aufruf. Auch das Ziel ist nicht klar. Manche sagen: Präsidentschaftspalast. Andere: Sitz des Wahlrats. Fest steht: Sie kommen nicht an. Sie kommen bis zu einer Straßensperre der Polizei. Da dreht der Zug um und strömt wieder zurück auf der Gegenseite der mehrspurigen Avenida, trifft sich mit allen, die nachkommen.

Als sich die Dämmerung nähert und die Aras über den Stadthimmel ziehen, treibt die Polizei mit Tränengas und Gummigeschossen, auf Motorrädern und mit gepanzerten Fahrzeugen die Demonstrierenden vor sich her und in die Flucht. Die Plaza de Altamira wird auf einen Schlag leer.

Videos von anderen Orten zeigen Menschen in Zivil, die sich zwischen den Polizisten bewegen und Schüsse abfeuern. Das könnten Mitglieder der sogenannten Colectivos sein, paramilitärischer regierungstreuer Schlägertrupps.

Be­ob­ach­te­r:in­nen sagen, dass die Reaktionen der Polizei bisher gemäßigt waren. Kein Vergleich mit der brutalen Gewalt, die Demonstrierende in Vene­zuela gewohnt sind. Die Frage ist, ob das so bleibt, wenn die Proteste weitergehen.

Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation Foro Penal wurden bei den Protesten bislang mindestens zwei Menschen getötet. 46 weitere seien festgenommen worden.

Die Wut auf das Maduro-Regime und teilweise auch seinen Förderer Hugo Chávez, der am Wahlsonntag 70 geworden wäre, ist groß. Demonstrierende stießen mehrere Chávez-Statuen im Land um. Sie kamen auch bis zum Flughafen der Hauptstadt, der nur über eine einzige Straße zu erreichen ist. In den kommenden Tagen könnte es zu Blockaden kommen. Gesicherte Informationen sind allerdings Mangelware derzeit.

Oppositionsführerin María Corina Machado nannte am Montagabend in einer Pressekonferenz erste Zahlen zum Wahlergebnis. Zu dem Zeitpunkt lagen der Opposition laut Machado 73 Prozent der schriftlichen Wahlprotokolle vor. Die Auszählung habe 2,75 Millionen Stimmen für Maduro und 6,27 Millionen für seinen Herausforderer Edmundo González Urrutia ergeben. Die Opposition kündigte an, die Unterlagen zur Überprüfung für alle öffentlich ins Netz zu stellen.

„Jetzt! Hau! Schon! Ab!!!“

Eine alte Frau mit silbrigen Locken, die beim Protest gegen Nicolás Maduro mit einem Gehstock in Caracas auf einen Laternenpfahl einschlägt

Die unterschieden sich deutlich von denen des Wahlrats: Dessen Präsident hatte nach Mitternacht in einem ersten, allerdings „unumkehrbaren“ Bericht von einem Sieg Maduros mit 51,2 Prozent der Stimmen gesprochen. Auf González Urrutia entfielen demnach 44,2 Prozent. Die Opposition erkennt das Ergebnis nicht an. Die Internetseite des Wahlrats, wo dieser detaillierte Ergebnisse veröffentlichen wollte, war am Montag nicht erreichbar.

Dafür ist Generalstaatsanwalt Tarek William Saab dem Wunsch des Vorsitzenden nachgekommen und hat ermittelt. Ein Hackerangriff auf das unter Fachleuten als zuverlässig angesehene Computer-Wahlsystem sei für die auffälligen Verzögerungen am Wahlsonntag verantwortlich gewesen, sagte der Generalstaatsanwalt. Die Attacke sei aus Nordmazedonien gekommen und von Machado zusammen mit den Oppositionsführern Leopoldo López und Lester Toledo ausgeheckt worden. Beweise legte er nicht vor.

Venezuela hat erklärt, sein diplomatisches Personal aus sieben lateinamerikanischen Ländern abzuziehen: Argentinien, Chile, Costa Rica, Peru, Panama, Uruguay und der Dominikanischen Republik. Die hatten wie so viele zuvor eine vollständige Überprüfung des Wahlergebnisses gefordert. Für Caracas eine „Einmischung“.

Die USA erklärten, Wahlmanipulationen hätten Maduros Anspruch auf den Wahlsieg „jede Glaubwürdigkeit“ genommen. Washington schloss weitere Sanktionen gegen das Opec-Mitglied nicht aus. Die russische Regierung hingegen rief die Opposition auf, ihre Niederlage einzugestehen. Die USA sollten sich nicht einmischen, hieß es aus Moskau.

Oppositionsführerin Ma­cha­do rief dazu auf, weiter friedlich zu demonstrieren. Gewalt könnte dem Militär einen Anlass geben, einzugreifen. Verteidigungsminister Vladimir Padrino hatte vor einer Wiederholung der „schrecklichen Situationen von 2014, 2017 und 2019“ gewarnt oder vielmehr gedroht. Bei den Massenprotesten gegen Maduro kamen damals Hunderte Menschen ums Leben.