piwik no script img

Venezolanische Historikerin über Proteste„Die Situation ist verrückt“

Seit Tagen gehen in Venezuela Hunderttausende auf die Straße. Margarita López Maya beobachtet, wie Regierung und Militär den Bezug zur Realität verlieren.

Regierungsgegner in den Straßen von Caracas Foto: ap
Jürgen Vogt
Interview von Jürgen Vogt

taz: Frau López Maya, was treibt die VenezolanerInnen auf die Straßen?

Margarita López Maya: Wir stehen einem diktatorischen Regime gegenüber, das den Rechtsstaat nicht respektiert. Mehr noch: Diese Regierung garantiert weder die Ernährung der Bevölkerung noch die allernötigste Gesundheitsversorgung. In Caracas bilden sich morgens um sieben die Schlangen vor den Bäckereien, um ein paar Brötchen zu kaufen. Die Krankenhäuser sind kollabiert. Die Kindersterblichkeit steigt, die Alten sterben, weil es keine Medikamente gibt. Das alles bleibt im Dunkeln, offizielle Statistiken gibt es schon lange nicht mehr. Alles dreht sich um die Versorgung mit dem Nötigsten. Niemand kann mehr geregelt zur Arbeit gehen, die Kinder gehen kaum noch zur Schule. Es ist, als lebten wir in einem Kriegszustand.

Ist das der Auftakt einer Protestwelle, wie sie 2014 über das Land rollte?

Das ist möglich. Die Opposition hat es geschafft, dass die Menschen wieder massiv auf die Straße gehen. Die Beteiligung am Mittwoch war enorm, nicht nur in Caracas. Das auf Eis gelegte Referendum zur Amtsenthebung des Präsidenten und der gescheiterte Dialog zwischen Regierung und einem großen Teil der Opposition hatte die Bevölkerung demobilisiert. Jetzt sind die Menschen wieder auf der Straße, und zwar bewusster und organisierter.

Warum?

Durch die gemeinsamen Forderungen nach Neuwahlen und der Respektierung des Parlaments haben sich die politischen Parteien und sozialen Protestbewegungen einander angenähert. Hier entsteht ein neues Bündnis, das über das hinausgeht, was bisher als Opposition galt. Hätte nur die oppositionelle Parteienallianz Mesa de la Unidad Democrática aufgerufen, wären weit weniger Menschen gekommen.

Bild: Jürgen Vogt
Im Interview:  Margarita López Maya

65, ist promovierte Soziologin und Historikerin der Zentraluniversität Venezuela in Caracas.

Die Regierung konnte ebenfalls massiv mobilisieren.

Seriöse Umfragen belegen, dass der Rückhalt der Regierung in den Armenvierteln, den chavistischen Hochburgen, bröckelt. In manchen Barrios sind die Chavistas fast schon in der Minderheit. Aber die dortige Bevölkerung hat kaum Möglichkeiten, ihre Unzufriedenheit offen zu zeigen. Eingeschüchtert wird sie von den Colectivos, den regierungstreuen bewaffneten paramilitärischen Gruppen, die die Barrios kontrollieren. Eine andere Form der Kontrolle sind die seit einem Jahr bestehenden Lokalen Komitees für Versorgung und Verteilung (CLAP), über die gerade die Menschen in den Barrios mit Nahrungsmitteln und anderen Basisprodukten versorgt werden. Da wird sehr darauf geachtet, wer den Aufrufen der Regierung folgt und wer nicht.

Der Präsident hat von Wahlen gesprochen, kommt er der Opposition entgegen?

Am Mittwoch hat sich Maduro bei den Chavistas auf der Avenida Bolívar bedankt. Er sprach von einer überwältigenden Unterstützung und davon, dass er schon ganz sehnsüchtig auf die nächsten Wahlen warte, die seine Partei mit 80 Prozent gewinnen würde. Solche Aussagen pendeln zwischen reiner Fiktion und Täuschungsmanövern. Die Regierung hat bisher keinerlei Zugeständnisse gemacht – obwohl auch der Druck aus dem Ausland sehr groß ist. Ich sehe die große Gefahr, dass die Menschen ermüden.

Könnte das Militär die Macht übernehmen?

Einen Militärputsch halte ich im Moment für schwierig, dafür steht der Großteil der Militärs dem Präsidenten noch immer zu nah. Die Signale, die bisher aus den Kasernen kamen, sind sehr schüchtern. Aber die Situation ist gelinde gesagt verrückt, denn die Riege aus Regierung und Militär hat den Bezug zur Realität der Bevölkerung und des Landes völlig verloren.

Und nun?

Ein zukünftiges Szenario könnte tatsächlich sein, dass aktive ­Militärs oder die „zivilen“ Militärs – also jene ehemaligen Generäle, die heute Gouverneure in vielen Bundesstaaten sind – Maduro zu wirklichen Verhandlungen mit der Opposition drängen oder ohne ihn eine Regierung der nationalen Einheit installieren und Neuwahlen ansetzen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

15 Kommentare

 / 
  • dass aktive Militärs oder die „zivilen“ Militärs – also jene ehemaligen Generäle, die heute Gouverneure in vielen Bundesstaaten sind – Maduro zu wirklichen Verhandlungen mit der Opposition drängen oder ohne ihn eine Regierung der nationalen Einheit "installieren" und Neuwahlen ansetzen.- Wenn das nicht eine Empfehlung zum Militärputsch ist - was dann? Militärputsch - hatten wir das nicht schon mal in Venezuela ? zuerst von Chavez , dann gegen Chavez. Und da soll man denken, dass die TAZ demokratisches Handeln fördert?

  • Diese Regierung garantiert weder die Ernährung der Bevölkerung noch die allernötigste Gesundheitsversorgung. ...

     

    die Riege aus Regierung und Militär hat den Bezug zur Realität der Bevölkerung und des Landes völlig verloren ....

     

    zwei schlüsselsätze die belegen, was und weshalb - auch hier im westen - das ganze politische system nie funktioniert hat. politik und militär mit realitätsbezug? fehlt nur noch der hinweis auf den fehlenden bezug der wirtschaft. und die bevormundung, an die wir uns so gut gewöhnt haben - dass man dafür noch demonstrieren geht ..... anstatt selbst den ar*** hochzukriegen.

     

    die demos von heute - gleich wo - sind nur noch neiddemos.

  • Traditionell tut sich die politische Rechte Lateinamerikas ja schwer mit demokratischen Wahlen. In jüngster Zeit schön zu sehen an den Beispielen Brasiliens und Ecuador. Aber das hier ist tatsächlich verrückt: Frage: "Könnte das Militär die Macht übernehmen?" – Antwort: "Einen Militärputsch halte ich im Moment für schwierig, dafür steht der Großteil der Militärs dem Präsidenten noch immer zu nah" Ja, man hat es echt schwer als Konterrevolutionär.

  • Ist die TAZ noch links?

    Ist es tatsächlich so, dass man sich nicht daran stört, dass man den Ölpreis nur lange genug drücken und dafür sorgen muss, dass die Lebensmittel knapp werden, und schon bekommen die US-Ölkonzerne zugriff auf die Quellen.

    Habt ihr die Schüsse nicht gehört, in Lybien, Irak. Ja, ich vergaß, das waren ja Volksbefreiungen im Namen der Menschlichkeit.

    Frisch frisierte Bonzen demostrieren in Venezuela fürs TV und schicken bildungsferne Fusstruppen (in Rot) und Studenten in Richtung Re-Initialisierung des Faschismus?

    Wer glaubt die Rechte in Venezuela sorgt sich ums Volk, der rufe;

    Viva la Conter - Revulition.

     

    Gibst es eigentlich nur noch Menschen im Geschichts-Zölibat.

     

    nur zur Info , ich bin kein Linker, sondern othodoxer Demokrat.

    Ich kämpfe als Humantoxikolge jeden Tag gegen Gutachtenfälscher und Faktenverdreher im Dienste der KOnzerne (DOW, BASF usw)

    Die Lügen sind all gegenwärtig.

    Was ich nicht ab kann, sind, außer Faschisten, Linksextreme und Glaubensfanatiker jedweder Coleur, geschichtsvergessene Welterklärer...

    • @PeRö:

      "Was ich nicht ab kann, sind, außer Faschisten, Linksextreme und Glaubensfanatiker jedweder Coleur, geschichtsvergessene Welterklärer..."

       

      In diesem Fall sind Sie der Glaubensfanatiker, der nicht sieht, dass das Chavez-Maduro-Regime weder sozial noch sozialistisch ist, sondern nur an sich und die eigene Klientel denkt.

       

      Solange der Ölpreis hoch war konnte man die Kleptokratie ein Stück weit verdecken, weil auch alle anderen Venezulaner davon etwas abbekommen haben. Jetzt reicht das Geld nur noch für Maduro, seine Clique und seine bezahlten Handlanger.

      • @Martin74:

        Es gilt, das geringere Übel zu wählen.

        So war es im Irak und in Lybien so, dass der "Befreiung" im IRAK hunderttausendfacher TOD, bzw. in Lybien Boko Haram, ebenfalls mit zig-tausendfachem Tod einherging.

        Die Diktatoren hatten das Volk mit einem System von Wohltaten (freie Krankenvorsorge, Frauenrechte, und Bildung) sowie Angst (vor Mord und Folter) ruhig gestellt. Ist es wirklich so, dass es Menschen gibt, die huntertasende Tote für gerechtfertigt halten, so es dem Zwecke dient ein korruptes System zu entfernen, welches sich "nur" 50% der Petrodollars in die eigene Tasche steckte., obwohl die von USA und UN Gnaden installierten Rechtsnachfolger (IRAK und Lybien) die einzigen sind die in diesen Ländern vom Öl profitieren. Nachdem die Quellen privatisiert wurden, ist Ende mit "Lustig".

        Fragt die Afrikaner, was diese von den Bodenschätzen haben, die die US und EU Konzerne ausbeuten.

        Die westlichen Konzerne brachten dem schwarzen Kontinent primär Tod und Korruption.

        Die Chinesen hinterlassen wenigstens Strassen, Schulen und Krankenhäuser wenn sie gehen.

        Und damit das klar ist. Ich hab nix gegen die Amis. Nur gegen die Politik die sie betreiben.

    • 3G
      38057 (Profil gelöscht)
      • @38057 (Profil gelöscht):

        Ein wirklich sehr schönes Beispiel. Würde die venezolanische Regierung ihr autoritäres Regime nicht mit einem linken, antiamerikanischen Mäntelchen bekleiden, hätte die Junge Welt den Artikel anders geschrieben und die offiziellen Ermittlungsergebnisse bezüglich der Toten angezweifelt.

         

        So aber kam ein vollkommen einseitiger Artikel heraus, der auch noch unterschlägt, dass ein nicht unerheblicher Teil der Chavistas von der Regierung ausgerüstete Milizen sind.

    • @PeRö:

      Tja, das ist halt das Problem vieler Linken. Wenn die Fähnchen nur rot genug sind, ist die dahinterstehende Politik egal.

       

      Von Chavez eingeführter Personenkult und Konzentration der Macht? Egal, er ist ja links. Unterdrückung der Opposition? Egal, die Regierung ist ja links. Korruption der Regierung und ihrer Günstlinge? Egal, ist ja links.

       

      Jahrelange Misswirtschaft und Verfall der Ölförderanlagen, nicht zuletzt durch besagte Korruption? Nein! Der Ami war es, der öldrückende... der garnichts bei der OPEC zu sagen hat, die den Ölpreis gedrückt hat... egal, der Ami war es!

       

      Auch, wenn Sie sich selbst nicht als Linker sehen mögen, den Antiamerikanismus, den haben sie perfekt drauf.

      • @sart:

        @ SART:

         

        Dazu kommt, dass Linke, die sich in einem Atemzug gleichzeitig und vollkommen selbstverständlich als "liberal" einstufen, einen Hang dazu haben, Diktaturen in Schutz zu nehmen.

        Ich glaube es war Ludwig von Mises, eines der großen Schreckgespenster der "linksliberal"-postmodernen Salonrevoluzzer, der mal sinngemäß sagte, dass die größten Einwände gegenüber dem Liberalismus aus Misstrauen gegenüber der Freiheit entstünden.

        So erkläre ich es mir hier, dass immer wieder ein Grund gefunden wird, warum nicht das offensichtliche zutrifft, sondern die bösen USA und (das darf und sollte schon mal bedeutungsschwanger geraunt werden) "geopolitische Interessen" an allem Schuld sind.

        Sie finden tausend wortreiche Elaborate darüber, wie die bösen Kapitalisten, USA, Israel, EU in der Welt (vermeintlich) "völkerrechtswidrig" wüten, aber als Diktator sein eigenes Volk zu massakrieren oder - wie hier - dieses trotz der weltweit größten Ölreserven in einem Sumpf aus Korruption und altlinker Wirtschaftsdemagogie versinken zu lassen, das geht immer. Ein "Versteher" oder "Einordner" wird sich immer finden.

        • @Liberal:

          Das käme natürlich noch hinzu. Es ist wirklich erstaunlich, wieviele Linke Diktaturen verteidigen, weil sie linke Politik zu erkennen glauben, wo es eigentlich nur panem et circenses gibt. Chavez hatte das ja perfektioniert, aber der konnte sich noch auf einen hohen Ölpreis stützen.

  • Pegida in Caracas.

     

    Aufschlussreich und sehr passend, dass eine staatlich besoldete Akademikerin das Ausbleiben eines Militärputsches bedauert ("im Moment schwierig").

     

    Der ritualisierte Freiluftkarneval der "Opposition" muss wohl kaschieren, dass deren Umfragewerte in den Keller gehen: https://amerika21.de/2017/04/174059/zustimmung-linke-venezuela

  • Klar doch, dass dieses Thema wenig interessant ist.

    In der Uniklinik Heidelberg lernte ich eine Reinigungskraft kennen.

    Sie wohnte noch vor 15 Jahren in Venezuela mit ihrem Mann.

    Venezuela war damals schon platt infolge korrupter Staatsführung.

    Die junge Familie zog nach Deutschland; er arbeitet als Schlosser, sie als Hilfskraft in der Klinik, die Tochter geht zur Schule und man kann leben. Besser als in Venezuela.

    Korruption ist wohl das A und O auch dort.

  • Interessantes Interview:

     

    DDR, Kambodscha, Kuba, Nordkorea, Venezuela....und viele Menschen haben's immer noch nicht begriffen.

     

    Ein sehr kluger Mann sagte mal:

     

    "You cannot allow any of your people to avoid the brutal facts. If they start living in a dream world, it's going to be bad."

    • @Günter:

      (Vorbemerkung. Ironie sollte in diesem Forum als solches erkennbar sein)

      Sie sind also der Meinung, dass Trumps, d.h. der US Verteitigungsminister ein "sehr kluger Mann" ist.

       

      Kommt darauf an wie man das Zitat übersetzt.

      Brutale Fakten zu umgehen ist ja eh die primäre Taktik Trumps...