Venezolanische Historikerin über Proteste: „Die Situation ist verrückt“
Seit Tagen gehen in Venezuela Hunderttausende auf die Straße. Margarita López Maya beobachtet, wie Regierung und Militär den Bezug zur Realität verlieren.
taz: Frau López Maya, was treibt die VenezolanerInnen auf die Straßen?
Margarita López Maya: Wir stehen einem diktatorischen Regime gegenüber, das den Rechtsstaat nicht respektiert. Mehr noch: Diese Regierung garantiert weder die Ernährung der Bevölkerung noch die allernötigste Gesundheitsversorgung. In Caracas bilden sich morgens um sieben die Schlangen vor den Bäckereien, um ein paar Brötchen zu kaufen. Die Krankenhäuser sind kollabiert. Die Kindersterblichkeit steigt, die Alten sterben, weil es keine Medikamente gibt. Das alles bleibt im Dunkeln, offizielle Statistiken gibt es schon lange nicht mehr. Alles dreht sich um die Versorgung mit dem Nötigsten. Niemand kann mehr geregelt zur Arbeit gehen, die Kinder gehen kaum noch zur Schule. Es ist, als lebten wir in einem Kriegszustand.
Ist das der Auftakt einer Protestwelle, wie sie 2014 über das Land rollte?
Das ist möglich. Die Opposition hat es geschafft, dass die Menschen wieder massiv auf die Straße gehen. Die Beteiligung am Mittwoch war enorm, nicht nur in Caracas. Das auf Eis gelegte Referendum zur Amtsenthebung des Präsidenten und der gescheiterte Dialog zwischen Regierung und einem großen Teil der Opposition hatte die Bevölkerung demobilisiert. Jetzt sind die Menschen wieder auf der Straße, und zwar bewusster und organisierter.
Warum?
Durch die gemeinsamen Forderungen nach Neuwahlen und der Respektierung des Parlaments haben sich die politischen Parteien und sozialen Protestbewegungen einander angenähert. Hier entsteht ein neues Bündnis, das über das hinausgeht, was bisher als Opposition galt. Hätte nur die oppositionelle Parteienallianz Mesa de la Unidad Democrática aufgerufen, wären weit weniger Menschen gekommen.
Die Regierung konnte ebenfalls massiv mobilisieren.
Seriöse Umfragen belegen, dass der Rückhalt der Regierung in den Armenvierteln, den chavistischen Hochburgen, bröckelt. In manchen Barrios sind die Chavistas fast schon in der Minderheit. Aber die dortige Bevölkerung hat kaum Möglichkeiten, ihre Unzufriedenheit offen zu zeigen. Eingeschüchtert wird sie von den Colectivos, den regierungstreuen bewaffneten paramilitärischen Gruppen, die die Barrios kontrollieren. Eine andere Form der Kontrolle sind die seit einem Jahr bestehenden Lokalen Komitees für Versorgung und Verteilung (CLAP), über die gerade die Menschen in den Barrios mit Nahrungsmitteln und anderen Basisprodukten versorgt werden. Da wird sehr darauf geachtet, wer den Aufrufen der Regierung folgt und wer nicht.
Der Präsident hat von Wahlen gesprochen, kommt er der Opposition entgegen?
Am Mittwoch hat sich Maduro bei den Chavistas auf der Avenida Bolívar bedankt. Er sprach von einer überwältigenden Unterstützung und davon, dass er schon ganz sehnsüchtig auf die nächsten Wahlen warte, die seine Partei mit 80 Prozent gewinnen würde. Solche Aussagen pendeln zwischen reiner Fiktion und Täuschungsmanövern. Die Regierung hat bisher keinerlei Zugeständnisse gemacht – obwohl auch der Druck aus dem Ausland sehr groß ist. Ich sehe die große Gefahr, dass die Menschen ermüden.
Könnte das Militär die Macht übernehmen?
Einen Militärputsch halte ich im Moment für schwierig, dafür steht der Großteil der Militärs dem Präsidenten noch immer zu nah. Die Signale, die bisher aus den Kasernen kamen, sind sehr schüchtern. Aber die Situation ist gelinde gesagt verrückt, denn die Riege aus Regierung und Militär hat den Bezug zur Realität der Bevölkerung und des Landes völlig verloren.
Und nun?
Ein zukünftiges Szenario könnte tatsächlich sein, dass aktive Militärs oder die „zivilen“ Militärs – also jene ehemaligen Generäle, die heute Gouverneure in vielen Bundesstaaten sind – Maduro zu wirklichen Verhandlungen mit der Opposition drängen oder ohne ihn eine Regierung der nationalen Einheit installieren und Neuwahlen ansetzen.
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