VW Zwickau stellt auf E-Autos um: Zukunft made in Sachsen
Sally Floss ist auf Weiterbildung. Sie wird bei Volkswagen in Sachsen bald nur noch elektrische Fahrzeuge bauen. Die Zukunft weckt auch Ängste.
Im VW-Werk am Rande des Erzgebirges schreiben die Sächsinnen und Sachsen Industriegeschichte: Der Autobauer läutet hier das Ende der Ära des Verbrennungsmotors ein. Der Konzern baut die konventionelle Fabrik zum weltweiten Vorzeigestandort für die Produktion von E-Fahrzeugen um. Zwickau wird zum Modell für das neue Zeitalter, in das VW und die deutsche Autoindustrie im Vergleich zur chinesischen Konkurrenz mit erheblicher Verspätung aufbrechen.
Dafür geht es umso rasanter los. Im laufenden Betrieb soll die Umstellung von umweltschädlichen Fahrzeugen auf Öko-Wagen erfolgen. „Das ist weltweit das erste Mal, das so etwas gemacht wird“, sagt VW-Sprecher Carsten Krebs. Anderswo errichten Autohersteller neue Fabriken, wenn sie E-Autos herzustellen beginnen, sagt er. In Zwickau bauen sie um – in den Hallen und in den Köpfen der Führungskräfte und ArbeiterInnen, denn die wurden bislang auf die Herstellung von Diesel- und Benzinfahrzeuge getrimmt. Im November sollen die ersten E-Autos ausgeliefert werden.
Etwa 8.000 Menschen arbeiten bei Volkswagen in Zwickau, außerdem Tausende bei Zulieferern in der Umgebung. Das 90.000 EinwohnerInnen zählende Zwickau besteht aus vielen kleinen Ortschaften. Das VW-Werk wirkt, als wäre es eine von ihnen. Auf dem Gelände hinter dem Eingang mit zwei Schranken und Pförtner befinden sich Straßen, an denen Bürogebäude und riesige Werkhallen liegen. Volkswagen investiert hier 1,2 Milliarden Euro.
Das Versprechen: Niemand verliert seinen Job
Allerdings: Für den Bau von E-Autos werden etwa ein Drittel weniger Beschäftigte benötigt, weil weniger Teile verbaut werden müssen. Doch VW wird deswegen niemanden entlassen. Dafür soll die Produktion ausgeweitet werden. Statt wie bisher zwei sollen künftig sechs Modelle vom Band rollen. Statt 1.350 Autos sollen künftig täglich 1.500 produziert werden. „Wir haben eine Beschäftigungsgarantie bis 2029“, sagt der Betriebsratsvorsitzende Jens Rothe. Er hat 1990 auf diesem Areal die letzten Produktionstage des DDR-Autos Trabant, des Trabbi, erlebt. Seit mehr als 100 Jahren werden hier Autos gebaut, zuerst der Horch, der Audi, dann der legendäre „Silberpfeil“.
Rothe kennt VW Sachsen vom ersten Tag an. „Ich fühle mich heute sehr an die Nachwendezeit erinnert“, sagt der 49-Jährige. Denn der Umbruch ist ähnlich groß. „In der Belegschaft ist die Stimmung gemischt“, berichtet Rothe. Etliche fragen sich, wie das mit den E-Autos funktionieren soll ohne flächendeckende Ladeinfrastruktur. Und ob überhaupt genug Menschen die Wagen mit elektrischem Antrieb kaufen. „Aber viele sind auch stolz, dass wir hier der Eisbrecher für den Konzern sind“, sagt er. Rothe selbst ist demonstrativ begeistert: „Wir bekommen die neueste Infrastruktur, die neueste Technik, die modernsten Autos, und die Belegschaft ist auf dem höchsten Qualifizierungsniveau – eine bessere Zukunftssicherung kann es nicht geben.“
Sally Floss, Mechatronikerin bei VW in Zwickau
In Halle 4 laufen die Vorbereitungen auf die Zukunft auf Hochtouren. Auf 85.000 Quadratmetern wird hier die Karosserie gebaut. Von den 1.620 Robotern, die hier bald Autoteile bewegen, kleben oder schweißen sollen, werden 80 Prozent neu sein. Noch läuft der Probebetrieb. Meterhohe orangefarbene Industrieroboter stehen im Neonlicht der Halle. Sie schweißen Karosserieteile aneinander, die aus dem Presswerk nebenan geliefert werden. Über ein Transportsystem, das abgetrennt durch ein Drahtgitter unter der Hallendecke hängt, werden die Teile hin- und hergefahren. Am Anfang einer Schweißstraße legt ein Roboter ein Autoteil auf eine Maschine. In 68 bis 72 Sekunden setzen 134 Roboterkollegen an einem Seitenteil 1.492 Schweißpunkte. Stellen die Sensoren an den Schweißzangen einen Fehler fest, senden sie ein Signal an ein Display und stoppen die Anlage.
„Wer ein Handy bedient, kann das auch mit einem Roboter“
Ein Roboter sortiert die Teile für die Weiterverarbeitung. In der herkömmlichen Produktion machen das die Einleger. Diese einfachen Arbeiten fallen weg. Dafür werden viel mehr Menschen benötigt, die die vollautomatischen Anlagen überwachen. „Wir brauchen 27 Prozent mehr Anlagebediener als früher“, sagt Hallenchef Heiko Rösch. Der 52-Jährige trägt eine gelbe Sicherheitsweste über dem weißen Hemd und eine Jeans. Seine Brille hat passend zu seinen Augen blaue Stege. VW bietet den Mitarbeitern Qualifizierungsprogramme an, damit sie mitkommen. „Wenn man ein Handy bedienen kann, kann man auch einen Roboter bedienen“, ist Rösch überzeugt. Viele, auch Ältere, wollen sich fortbilden, sagt er. Mit „Ältere“ meint er Mitarbeiter ab Mitte 40.
VW hat ein eigenes Bildungswerk, um die eigenen Beschäftigten und die von Zulieferern zu qualifizieren. Das hat nun die Aufgabe, die Belegschaft fit zu machen für die E-Mobilität. Mithilfe virtueller Brillen lernen Beschäftigte neue Montagehandgriffe. Um die innere Einstellung geht es in Emotions-Räumen: Beschäftigte gehen durch einen grünen Raum im Stil des 19. Jahrhundert mit Pferdegeräuschen, dann in ein Zimmer mit Bildern von Helmut Kohl und Angela Merkel, um dann in einen Bereich mit modernen Batterien und E-Autokomponenten zu kommen. Transformation ist nichts Neues, aus Veränderung entsteht etwas Gutes, das soll die Botschaft sein.
Täglich werden 80 Menschen trainiert. An diesem Dienstag ist Sally Floss dabei. Die 24-Jährige hat Mechatronik bei VW gelernt. Sie trägt die werkstypische helle Latzhose, auf der ihr Nachname in Brusthöhe steht, und eine helloranges T-Shirt. Wann es für sie mit der E-Produktion losgeht, weiß sie noch nicht, wie sie dazu stehen soll, auch nicht. „Die das mit dem Umbau entschieden haben, wissen schon, was sie machen“, sagt sie mit einem angedeuteten Achselzucken. Das mit den E-Autos findet sie durchaus interessant und aufregend, sagt sie zögernd. „Das ist die Zukunft“, sagt sie nachdenklich. „Man merkt, wie sich alles verändert, und das ist auch gut so. Eine zweite Erde haben wir nicht.“
Wenn Sally Floss nicht gerade bei der Weiterbildung ist, arbeitet sie in Halle 6 und montiert dort Dachgepäckträger. Dort wird noch bis Juni nächsten Jahres der Golf Variant hergestellt, ein Auto aus der Welt, die bald die alte sein soll. Auch hier sind viele Industrieroboter im Einsatz – und noch etliche Menschen. Ein Arbeiter steckt Windschutzscheiben auf eine Vorrichtung. Ein Roboter nimmt die Scheibe, steckt sie in eine Autofront und klebt sie fest.
Die Autos hängen an Laufbändern an der Decke und bewegen sich an den Beschäftigten vorbei, während diese die Teile montieren. Die ArbeiterInnen kommen von der Seite, manche wie Katrin Möhring sitzen auf einem Stuhl mit Rollen. Die 50-Jährige rollt auf ein Auto zu. Sie bringt im Kofferraum Führungsprofile an, die einen Stoßfänger tragen sollen. „Davor habe ich Gurte montiert“, sagt sie. Alle zwei Stunden wechseln Möhring und die KollegInnen die Tätigkeit. Der Teamleiter kommt und schaut mahnend. Für Gespräche ist hier keine Zeit. An den Produktionsstraßen hängen Monitore, auf denen verzeichnet ist, wie viel die ArbeiterInnen in ihrer Schicht produzieren sollen, was sie schon produziert haben und was möglich wäre. Der Status liegt bei 95,7 Prozent, Ziel ist mindestens 97 Prozent.
Werden die Kunden bei Elektromobilität mitmachen?
Viele fragen sich hier, ob die neuen Autos auch ihre AbnehmerInnen finden werden. Der Preis der Wagen mit elektronischem Antrieb hängt von der Reichweite ab. Unter 30.000 Euro soll ein VW kosten, der mit voll aufgeladenen Batterien rund 330 Kilometer weit kommt – das wäre etwa die Entfernung von Zwickau in die VW-Zentrale nach Wolfsburg. „Damit werden wir unserem Begriff Volkswagen gerecht: dass wir nicht für Millionäre, sondern für Millionen Autos bauen“, sagt Reinhard de Vreis, einer der drei Geschäftsführer des Zwickauer Werks. Er fährt mit einem E-Auto – jedenfalls manchmal. Wenn er aber nach Wolfsburg muss, dann nimmt er lieber den schnellen Golf GTI. „Wegen der Reichweite“, sagt er. „Aber das wird in Zukunft ja kein Thema mehr sein.“ Der ID.3 First mit einer Reichweite von 420 Kilometern soll 40.000 Euro kosten.
Vom Werk bis in die Zwickauer Innenstadt dauert es mit dem Auto eine gute Viertelstunde. Am Hauptmarkt zeugen sanierte alte Häuser von früherem Wohlstand. Neben der Autoproduktion war der Kohleabbau lange prägend für die Stadt. Der Hauptmarkt ist ein beschaulicher Ort. Hier steht das Rathaus, daneben ein Café mit Terrasse, das um 18 Uhr schließt, gegenüber ein Eiscafé. Bänke auf dem Platz laden zum Verweilen ein.
Die offizielle Arbeitslosenquote in Zwickau gehört mit 4,3 Prozent zu den niedrigsten in Sachsen. Die Arbeitsagentur meldet knapp 1.800 offene Stellen, vor allem in der Zeitarbeit und im verarbeitenden Gewerbe. Das ist nahezu Vollbeschäftigung. Doch die Stimmung in der Stadt spiegelt diese gute Lage nicht, sagt René Hahn, der im Jugendclub Roter Baum aktiv ist. Viele hier hätten das Gefühl, direkt oder indirekt von der Autoindustrie abzuhängen.„Es gibt eine gewisse Anspannung, weil man nicht weiß, wo das mit der E-Mobilität hinführt“, sagt Hahn, der für die Linkspartei im Stadtrat sitzt. „In Zukunft werden eher Ingenieure gebraucht als Arbeiter“, sagt er. Das mache vielen Sorgen. „Die Leute haben eigentlich Arbeit.“ Aber viele fänden das, was sie bekommen können, nicht attraktiv – einen Job in der Autobranche oder im Handwerk. So wanderten etliche junge Leute ab.
Friday-for-Future protestiert nicht gegen VW
Auf dem Hauptmarkt wird am 20. September auch zum globalen Klimastreiktag eine Veranstaltung stattfinden, die SchülerInnen von Fridays for Future in Zwickau organisieren. Als einige SchülerInnen im März für eine Klimademonstration im benachbarten Chemnitz mobilisierten, schlossen sich 300 junge Leute an. Seitdem gibt es eine Fridays-for-Future-Ortsgruppe. Die jungen AktivistInnen betrachten die Änderungen bei VW mit Zurückhaltung. „E-Mobilität ist eine schwieriges Thema“, sagt der 17-jährige Jakob. „Es ist gut, dass es vom Verbrennungsmotor weggeht. Aber E-Autos sind nicht die Lösung für das Klimaproblem.“ Das wären sie seiner Meinung nach höchstens, wenn es auch eine umfassende Energiewende geben würde. Er und seine Mitstreiterinnen sehen auch Probleme beim Recycling. „Ich frage mich, was mit den Batterien passieren wird, wenn die Autos verschrottet werden“, sagt die 16-jährige Vanessa.
Hauptthema der Gruppe ist der Verkehr. Bei Ampelaktionen etwa springen die SchülerInnen mit einem Banner auf die Straße, auf dem sie Geschwindigkeitsbegrenzungen fordern. Vor Kurzem veranstalteten sie eine Fahrrad-Demo unter dem Motto „Verkehrswende statt Weltende“. „Der öffentliche Nahverkehr in Zwickau ist miserabel, wir wollen, dass er besser wird“, sagt die 15-Jährige Paulina. Die SchülerInnen wollen nicht einen Führerschein machen müssen, wenn sie 18 werden, um sich in der Region fortbewegen zu können. Gegen den Autobauer VW richten sich ihre Aktionen nicht. Dazu ist seine Bedeutung als Arbeitgeber zu groß, sagen sie.
Ungebrochen positiv gesehen wird der Umstieg bei VW rund zwei Kilometer vom Marktplatz entfernt. Gegenüber vom Bahnhof, in der dritten Etage eines Bürohauses, hat die Gewerkschaft IG Metall ihre Geschäftsstelle. Hinter der Eingangstür hängt eine Motorhaube, auf der ein stilisiertes Auto zu sehen ist. Am anderen Ende des Flurs mit rotem Teppich liegt das Büro von Jörg Brodmann. Er freut sich über den Transformationsprozess bei Volkswagen – und darüber, dass er im Werk Zwickau beginnt. „Das ist ein riesiger Umbruch“, sagt er. „Wir sind froh darüber, dass Zwickau das Pilotprojekt ist.“ Denn das stärkt den Standort, ist er überzeugt.
Der Metaller ist zufrieden
Dabei kennt er durchaus auch Verlierer dieses Prozesses. Wenn bei VW wegen des Umbaus die Bänder still stehen, stehen sie auch dort, wo Sitze oder Bauteile für den Autobauer produziert werden. „Es gibt Kurzarbeit bei Zulieferern“, sagt Brodmann. Die Beschäftigten bekommen bei Kurzarbeit nur 60 Prozent ihres Nettogehalts. Die IG Metall fordert, dass der Arbeitgeber den Betrag auf 85 Prozent erhöht. „Damit das geschieht, braucht es Druck“, sagt der 45-Jährige. Da der Betriebsrat der Kurzarbeit zustimmen muss, gibt es dort ein Druckmittel, wo es Arbeitnehmervertretungen gibt. Bei VW sind viele Beschäftigte gewerkschaftlich organisiert, das ist nicht bei allen Zulieferern der Fall.
Der Gewerkschafter weiß, dass viele KollegInnen in der Autobranche mit großem Unbehagen den neuen elektronischen Zeiten entgegensehen. „Viele fragen sich, ob das funktioniert“, berichtet Brodmann. Die Zweifel sind immer dieselben: Wie ist das mit den Reichweiten der Autos, der Lade-Infrastruktur, den Arbeitsplätzen, der Nachfrage. Brodmann hat Verständnis für die Ängste. „Die Leute, die zu Wendezeiten ins Berufsleben eingestiegen sind, haben einen harten Ritt hinter sich“, sagt er. „Viele haben eine Enttäuschungsgeschichte erlebt.“ Sie verloren ihre Jobs, mussten immer wieder von vorn anfangen und wurden vergleichsweise schlecht bezahlt. Die Region sei als Billiglohnland wahrgenommen worden, kritisiert Brodmann – auch, weil PolitikerInnen damit geworben habe, dass hier für 30 Prozent weniger gearbeitet werde als im Westen.
Im Regal schräg vor Brodmanns Schreibtisch steht ein vielleicht zehn Zentimeter großes Holzmännchen mit einem Schild: „35 reicht“ steht darauf. Die VW-Arbeiter in Zwickau verdienen mit mindestens 3.300 Euro brutto im Monat nicht schlecht. Aber sie arbeiten für das gleiche Geld drei Stunden in der Woche mehr als die KollegInnen in Emden, Hannover oder Wolfsburg. Die IG Metall ist 2003 mit dem Versuch gescheitert, auch im Osten die 35-Stunden-Woche einzuführen. Jetzt will die Gewerkschaft einen neuen Versuch unternehmen, die Angleichung zwischen Ost und West zu erreichen. Die Arbeitgeber sperren sich dagegen. „Wir wollen das für die Fläche, aber wenn es keinen anderen Weg gibt, fangen wir in den Betrieben an“, sagt Brodmann.
Bei VW Zwickau wird die IG Metall auf Granit beißen. „Wir halten uns aus dieser Diskussion raus“, sagt Geschäftsführer de Vries. Er hält es nicht für nötig, durch die gleiche Bezahlung im Osten ein Zeichen der Anerkennung zu setzen. „Wir setzen ein Zeichen mit der Produktion“, sagt er knapp.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker