Urteil zu Israels Justizreform: Den Schaden hätte die Demokratie
Israels Oberstes Gericht verwirft den Kern der umstrittenen Justizreform. Während Premier Netanjahu schweigt, üben seine Minister Kritik. Und nun?
Das Oberste Gericht entschied, dass eine von der Knesset verabschiedete Änderung eines Grundgesetzes nicht rechtmäßig sei, nämlich die Abschaffung der sogenannten Angemessenheitsklausel. Vor der Änderung dieser Klausel hatte das Gericht die Möglichkeit, Entscheidungen von Regierungsmitgliedern und anderen Amtsträgern als „unangemessen“ einzustufen. Dabei geht es nicht nur um mögliche Gesetzesverstöße, sondern auch um Personalentscheidungen, die das Gericht für ungültig erklären kann, etwa wegen laufender Korruptionsverfahren oder Disziplinarstrafen.
Die Regierung hatte die Gesetzesänderung kurz vor der Sommerpause im Juli vergangenen Jahres durchgedrückt. Sie blieb der erste und bislang einzige Teil der ursprünglich angekündigten, großangelegten „Justizreform“. Nun hat das Oberste Gericht sie gekippt.
Acht von 15 Richter*innen urteilten, dass die Gesetzesänderung nicht rechtens sei. „Das Gericht befand, dass die Änderung den Kern von Israels Wesen als demokratischen Staat einen schweren und noch nie dagewesenen Schaden zufügt“, hieß es zur Begründung. Die Gerichtsentscheidung befasst sich außerdem mit der grundlegenden Frage, ob das Gericht überhaupt die Autorität hat, vom Parlament erlassene Grundgesetze oder Änderungen dieser Gesetze niederzuschlagen. Diese Frage bejahten 13 der 15 Richter*innen.
Die Reaktionen auf das Urteil spalten das Land. Doch die Entscheidung, ob es zu einer Verfassungskrise kommt, ist noch nicht gefallen. Dabei hatten viele Israelis die Gerichtsentscheidung im Vorfeld als Scheitelpunkt betrachtet, an dem sich genau dies entscheiden würde. Die Opposition reagierte eindeutig. Der zentristische Politiker Jair Lapid begrüßte das Urteil: „Der Oberste Gerichtshof hat heute seine Pflicht zum Schutz der israelischen Bürger erfüllt“, schrieb er auf X, vormals Twitter. Auch Benny Gantz, der vor drei Monaten dem Notstandskabinett beigetreten war, drängte darauf, dass das Urteil akzeptiert werden muss.
Minister*innen werfen dem Gericht vor, das Land zu spalten
Aus dem regulären rechts-religiösen Kabinett hingegen kamen zwar harsche Reaktionen, jedoch keine eindeutige Ankündigung, das Urteil nicht akzeptieren zu wollen. Justizminister Yariv Levin, der Architekt der Pläne zum Staatsumbau, warf den Richter*innen des Obersten Gerichtshofs vor, „alle Macht, die eigentlich auf die drei staatlichen Gewalten verteilt sein müsste, an sich zu nehmen“. Er fügte hinzu, dass das Urteil „uns nicht aufhalten würde“: Was genau dies bedeutet, blieb unklar, doch die Äußerung stellt die Möglichkeit in den Raum, dass es zu einer Eskalation zwischen der Regierung und dem Obersten Gericht kommen könnte.
Der rechtsextreme Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, nannte die Entscheidung ein „gefährliches und antidemokratisches Ereignis“. Geschlossen warfen die Minister*innen dem Gericht vor, ausgerechnet zu dieser Zeit, in der Israel Krieg führe, das Land zu spalten und Israels Kriegsanstrengungen zu untergraben.
Von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu selbst kam zunächst keine Reaktion. Seine Likud-Partei erklärte jedoch, dass die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes eine „gegen den Willen des Volkes zur Einheit, insbesondere in Kriegszeiten“ sei.
Der Krieg spielt Netanjahu in die Hände
Nach Ansicht der israelischen Rechtswissenschaftlerin Tamar Hostovsky-Brandes war die Annahme, dass die Verfassungskrise am Tag der Gerichtsentscheidung ihren Höhepunkt erreichen würde, von Anfang an falsch: „Hier geht es nicht um einen Befehl an die Regierung, etwas zu tun oder zu lassen. Die Regierung muss nichts erklären.“ Vielmehr bleibt abzuwarten, ob sich die Regierung an die Autorität des Gerichts halten wird, wenn dieses Regierungsentscheidungen auf der Grundlage der Angemessenheitsklausel für nichtig erklärt.
In gewisser Weise spielt der Krieg Netanjahu auch in dieser Hinsicht in die Hände: Vor dem 7. Oktober hätte der politische Druck Netanjahu wahrscheinlich dazu veranlasst, eine klare Stellungnahme zum Gerichtsurteil abzugeben. In der gegenwärtigen Kriegssituation kann die Antwort auf die Frage, wie es mit Israels Rechtskrise weitergeht, jedoch einfach verschoben werden – möglicherweise bis nach dem Krieg, wann auch immer das sein mag. Hostovsky-Brandes hingegen hofft, dass die erlahmte Protestbewegung nun wieder lauter wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe