Urteil zu „Estonia“-Recherche: Bedingter Freispruch
Recherchen über den Untergang der Fähre „Estonia“ brachten zwei schwedische Journalisten vor Gericht. Geklärt ist die Angelegenheit noch nicht.
Die schwedischen Journalisten Henrik Evertsson und Linus Andersson wurden am Montag vom Amtsgericht in Göteborg von einer Anklage freigesprochen, ohne dass die eigentliche Streitfrage des Verfahrens geklärt worden wäre: Haben sie mit ihren Recherchen für einen Dokumentarfilm die Totenruhe gestört?
Ein nicht gerade alltäglicher Vorwurf, weshalb das Verfahren auch über Schweden hinaus Aufmerksamkeit geweckt hatte. Evertsson und Andersson recherchierten 2019 zu den Ursachen des Untergangs der Fähre „Estonia“ im Jahre 1994. Ein Detail ihrer Recherchen rief die Staatsanwaltschaft auf den Plan: Mithilfe eines Tauchroboters wurden Unterwasseraufnahmen vom „Estonia“-Wrack gemacht, das in rund 60 Metern Tiefe auf dem Boden der Ostsee liegt.
Doch das ist strafbar. Den Ort um das Fährschiff, mit dem durch die schwerste europäische Schiffskatastrophe seit dem 2. Weltkrieg 852 Menschen untergegangen waren, haben Schweden, Finnland und Estland nämlich durch ein „Estonia-Gesetz“ zu einer Grabstätte erklärt. Tauchen ist dort grundsätzlich verboten.
Im Herbst 2020 erhielten die beiden Journalisten deshalb eine Anklage wegen Störung der Totenruhe. Es drohte eine Haftstrafe von bis zu zwei Jahren. Skandinavische Journalistenverbände und die Europäische Journalistenföderation EFJ protestierten: Investigativer Journalismus dürfe nicht kriminalisiert werden. Die Recherchen hätten im Interesse der Allgemeinheit stattgefunden.
Neue Untersuchung
Was nicht zuletzt die Reaktion beweise, die der Film ausgelöst habe. Die „verbotenen“ Aufnahmen zeigen nämlich ein bislang so nicht bekanntes Loch im Schiffsrumpf. Die Regierung Estlands stellte vergangene Woche 3 Millionen Euro für eine neue offizielle Untersuchung bereit. Ohne die Filmaufnahmen wäre das nicht geschehen.
Evertsson und Andersson wurden jetzt allein deshalb freigesprochen, weil die Tauchaktion von Bord eines in Deutschland registrierten Schiffs aus gemacht worden war. Damit sei deutsches Recht maßgeblich. Und Deutschland hat als einziger Ostseeanrainer das „Estonia-Gesetz“ nicht übernommen. Vermutlich wird das Urteil nicht das letzte Wort in der Sache sein. Seine Auslegung des „Estonia“-Gesetzes würde eine Verletzung der Totenruhe allein von der Flagge des Schiffs abhängig machen, von dem aus eine Handlung vorgenommen wird. Die Staatsanwaltschaft dürfte eine Grundsatzentscheidung durch den Obersten Gerichtshof anstreben.
Der hatte 2015 in einem ähnlichen Fall schon einmal über die Grenzen journalistischer Recherchen zu entscheiden gehabt. Damals wurden der Chefredakteur und zwei Journalisten der Tageszeitung Expressen wegen Verstoß gegen das Waffenrecht zu Geldstrafen verurteilt. Sie hatten im Rahmen von Recherchen zum Waffenhandel illegal einen Revolver gekauft, diesen danach aber sofort der Polizei übergeben.
Für JournalistInnen gilt kein Sonderrecht, ganz gleich mit welchen Motiven sie geltendes Recht brechen, entschied der Oberste Gerichtshof: Ihre Motive könnten allenfalls bei Schuldfrage und Strafzumessung berücksichtigt werden.
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