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Urteil im VergewaltigungsprozessBetäubt, gefilmt und vergewaltigt

Tabea R. wäre fast gestorben. Nun wurde Marvin S. in Berlin zu 5 Jahren und 6 Monaten Haft wegen Vergewaltigung und Körperverletzung verurteilt.

Protest vor dem Gericht durch die queerfeministische Initiative namens „Nur Ja heißt Ja“ Foto: Jens Kalaene/dpa

Berlin taz | Marvin S. filmte, wie er in den Mund der vor ihm liegenden Tabea R. ejakuliert. Diese zeigt „keine Regung“, so ist es auf dem Video aus der Tatnacht zu sehen, und so beschreibt es der Vorsitzende Richter Johannes Schwake am Freitag im Landgericht Berlin. Ihre Augen sind geschlossen, die Lippen bläulich. „Absolut unfähig“ sei Tabea R. (Name geändert) zu diesem Zeitpunkt gewesen, einen eigenen Willen zu äußern: Sie verharrte „in tiefer Bewusstlosigkeit“, so Schwake. Ihr Zustand spreche zudem für eine „beginnende Atemdepression“.

Die Existenz dieses und weiterer Videos sowie Fotos, die Schwake teils als „verstörend“ bezeichnet, gehört zu den zentralen Gründen, dass Marvin S. am Freitag zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass S. Tabea R. vergewaltigt hatte. Weitere Straftatbestände sind unter anderem Körperverletzung sowie der Besitz von Missbrauchsdarstellungen von Kindern. Die Staatswanwaltschaft hatte sechs Jahre, die Verteidigung Freispruch gefordert. Marvin S. hatte die Tat bestritten.

Tabea R., zum Zeitpunkt der Tat 20 Jahre alt und kurz vor ihrem Fachabitur, trinkt an einem Abend im April 2022 „größere Mengen“ Alkohol in der Wohnung einer Freundin in Berlin-Steglitz, beschreibt Schwake in der Urteilsbegründung. Sie hat Liebeskummer und sei „emotional aufgewühlt“. Nach Mitternacht macht sie sich auf den Heimweg, verpasst den Bus und geht deshalb zu Fuß.

Einer weiteren Freundin schickt sie mehrere Sprachnachrichten – auch, als Marvin S. sie anspricht und beide gemeinsam entscheiden, zu seiner nahen Wohnung zu gehen. Der Blutalkoholwert von Tabea R. habe zu diesem Zeitpunkt bei mindestens 2,45 Promille gelegen.

„Wehrlos und zur Einwilligung unfähig“

Zwar habe man den Gesamtablauf der Nacht nicht lückenlos aufklären können, so Schwake – aber durch Aussagen von 14 ZeugInnen, drei Sachverständigen sowie durch Sprachnachrichten, Fotos und Videos eben doch „einzelne Sequenzen“. Diese bestehen unter anderem darin, dass Marvin S. Tabea R., die keinerlei Erfahrungen mit harten Drogen hatte, Heroin zu rauchen gibt, dass sie beide das Beruhigungsmittel Alprazolam, Kokain und Cannabis konsumieren. S. selbst konsumiert zu diesem Zeitpunkt „täglich“ Heroin und Crack. Der heute gepflegt erscheinende 38-jährige habe zum Zeitpunkt der Tat „das Leben eines Junkies“ geführt, so Schwake.

Spätestens im Lauf der Nacht habe S. den Vorsatz gefasst, sexuelle Handlungen an R. vorzunehmen, „ob mit oder gegen ihren Willen“. Er legte ihr ein Würgehalsband an, tröpfelte heißes Wachs auf ihren Intimbereich und schrieb mit rotem Edding die Wörter „Slut“ und „Whore“ auf ihren Unterleib. Teils dokumentierte er die Taten per Handy. Dass Tabea R. mit Forschreiten der Nacht „wehrlos und zur Einwiligung unfähig“ war, habe S. erkannt und ausgenutzt – ebenso, dass der Mischkonsum bei R. „erhebliche Risiken“ berge.

Gegen 13 Uhr, so rekonstruiert es das Gericht, ist R.s Köper kalt, sie atmet nicht mehr. S. alarmiert die Notärztin, die wenig später einen Herzkreislaufstillstand bei Tabea R. feststellt. Zwölf Minuten wird sie reaninmiert, nach multiplem Organversagen liegt sie fünf Tage im künstlichen Koma in der Charité. Die von der Notärztin herbeigerufene Polizei sieht trotz der misogynen Schmiereien auf R.s Körper, trotz der Würgemale und der durch die Charité festgestellten „schweren Intoxikationserscheinungen“ keinen Grund, zu ermitteln. Erst, als die Familie Strafanzeige stellt, nimmt das Landeskriminalamt Ermittlungen auf.

Während Marvin S. bei der Urteilsbegründung am Freitag ins Leere sieht, verfolgt Tabea R., eine schmale, schwarz gekleidete Person, die Ausführungen des Richters aufmerksam – wie schon an den vorherigen Prozesstagen. An die Tatnacht selbst hat sie keine Erinnerungen. Bis heute jedoch schränken die Folgen sie ein: Zunächst war sie auf einen Rollstuhl, später auf Rollator und Gehstock angewiesen. Teils kann sie noch heute ihre Beine nicht spüren.

Zunächst keine Ermittlungen

Tabea R. leidet an einer chronischen posttraumatischen Belastungsstörung, an Schlafstörungen, anhaltenden Ängsten und depressiven Episoden. Aus dem sozialen Leben hat sie sich zurückgezogen, aufgrund von Konzentrationsproblemen war es ihr lange nicht möglich, weiter die Schule zu besuchen. Nun will sie zumindest ihr Fachabitur nachholen.

Tabea R.s Anwältin Christina Clemm sagte der taz, sie sei zutiefst beeindruckt von ihrer Mandantin. Die habe sich den gesamten Prozess „angetan“, um zu erfahren, was mit ihr passiert sei. Gleichzeitig bezeichnete Clemm es als „bodenlos“, dass die Polizei zunächst keinen Anfangsverdacht für Ermittlungen gesehen habe. Es gebe noch immer ein völlig unzureichendes Bewusstsein dafür, was Frauen mit welchen Mitteln angetan werde: „Was für eine Katastrophe“.

Eine queerfeministische Initiative namens „Nur Ja heißt Ja“ hielt am Freitag eine Mahnwache vor dem Gericht ab. Dass dieser Fall als „Drogenunfall“ eingestuft wurde, sagte einer der Initiatorinnen, zeige, wie Gesellschaft und Justizt sexualisierte Gewalt bagatellisierten und Betroffene im Stich ließen: „Ein Staat, der nicht schützt, macht sich mitschuldig“.

Tabea R.s Mutter sagte der taz, sie sei „froh und erleichtert“, dass das Gericht schließlich keinen Zweifel am Tathergang hatte. Das liegt, so viel ist klar, vor allem an dem vorhandenen Bildmaterial – einem seltenen Umstand in Vergewaltigungsprozessen. Für ihre Tochter sei es „ein sehr schwerer Prozess, das alles zu verarbeiten“. Als Familie wolle man nun versuchen, „loszulassen“.

Derweil wird der Fall möglicherweise nicht der letzte sein, wegen dem Marvin S. vor Gericht steht: Wie der Spiegel schreibt, zeigen einige Videos, die in S.s Wohnung gefunden wurden, wie sich S. an weiteren betäubten Frauen vergeht. Zwei neuerliche Anklagen gegen S. gibt es bereits, bestätigte die Pressestelle des Landgerichts. Sie sind noch nicht zur Hauptverhandlung zugelassen.

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9 Kommentare

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  • Nachdem, was man hier liest, sollte der Typ nach einer Haft umgehend in eine forensische Psychiatrie eingewiesen werden, bis Fachleute seine Ungefährlichkeit feststellen. Der Mann ist eine Gefahr für alle Mitbürgerinnen - und auch Mitbürger. Ich glaube kaum, dass bei ihm Strafe zur Einsicht führt.

  • Vielleicht sollte man bei mit Vorsatz verübten Taten die Entschädigung in der JVA abarbeiten lassen, was natürlich voraussetzt, dass dort richtige Tariflöhne gezahlt werden. Wenn man jetzt mit Vorsatz jemanden so schädigt, dass er lebenslang Hilfe braucht sollte man auch lebenslang dafür aufkommen müssen.



    Der Täter kommt jetzt nach 5,5 Jahren raus und die Allgemeinheit wird für das Opfer zahlen müssen, quasi noch ein Bonus für den Täter.



    Die andere Frage bleibt auch, warum wird das immer noch nicht von Ärzten gemeldet und von der Polizei und Staatsanwaltschaft ermittelt. Man kann hätte ja auch einfach das Opfer unter Hinzuziehung eines psychologischen Beistand befragen können, ob es Ermittlungen wünscht.

    • @Axel Schäfer:

      Würd ich anders denken. Warum Strafen? Zur Abschreckung…

      also sollte jeder Sexualstraftäter vom kleinsten Delikt bis zum äußersten eine dem Vergehen „angemessene“ Strafe zahlen, zuallererst ein Schmerzensgeld an das Opfer. Darüber hinaus in einen Fond der verteilt in Frauenschutzprogramme. Zum Beispiel Frauentaxen, Frauenhäuser, Rechtsbeistände für Frauen… Bei Widerholungstaten steigen Strafzahlungen exponentiell an, wird irreparabler Schaden angerichtet (wie oben) zahlt der Täter den Rest seines Lebens eine „Rente“ an das Opfer… noch unausgegoren (Idee blitze grad auf) aber DAS wäre gerecht. Täter dürfen sich Übergriffe und Gewalt einfach nicht mehr LEISTEN können.

    • @Axel Schäfer:

      Wenn man in einer JVA Tariflöhne zahlen würde, müssten die Häftlinge zuerst für Unterkunft und Verpflegung aufkommen. Angemessene Miete, Strom, Heizung, Verpflegung usw. Die Kosten für das Personal meine ich nicht.

  • Guten Tag Agarack

    Wünschen würde ich mir, dass Menschen, die anderen Menschen das Beschriebene antun, verstehen lernen, was sie getan haben.

    Wünschen würde ich mir, dass Menschen, die davon erfahren, verstehen lernen, was den betroffenen Menschen angetan wurde.

    Wünschen würde ich mir aber auch, dass nicht jedesmal, wenn queerfeministische Initiativen berechtigte Forderungen stellen, Menschen Ihnen vorzuschreiben versuchen, wie sie das zu tun haben. Denn die Forderungen haben sehr wohl mit dem Fall zu tun.

  • Solange wir in einer misogynen Androkratie leben, der weibliche Körper lediglich als Befriedigungstool für Männer angesehen wird, Geschlechtergerechtigkeit nicht endlich in allen alltäglichen Belangen des Lebens installiert wird, Übergriffe im einhelligen Konsens aller (bis auf das Opfer) verharmlost werden, massive teilweise institutionelle Täter-Opfer-Umkehr ausgeübt wird und Opfer in PTBS, Depressionen und Schlimmeres getrieben werden, Frauenhasser ihren Schmutz von Bühnen brüllen (Andrew Tate), sich frauenhassende (Incels) oder Vergewaltigungsnetzwerke auf allen asozialen Medien tummeln, der Staat die Täter schützt …

    Sollten sämtliche Gruppen, NGO’s und Unterstützer von Opfern und gegen Frauengewalt / Femizide alle Forderungen stellen dürfen und laut von Dächern brüllen, damit dieser Dreck endlich aufhört!

  • Dass sich Richter wegen eines so lächerlichen Urteils nicht schämen, sollte uns zu denken geben. Es hindert sie nämlich nichts daran, beim Strafmass über die, ebenfalls lächerliche, Forderung der Staatsanwaltschaft hinaus zu gehen.

  • ... das ist versuchter Mord. Sie war tot, im Koma und ist immernoch körperlich beeinträchtigt. _ Wenn Menschen die schwere der psychischen Folgen nicht anerkennen, aber diese eindeutige körperliche Zerstörung bis hin zum Tod fünf f* Jahre Wert sind. wtf



    Nur Einsperren ist keine Lösung (vor allem scheint dass "nur ja heißt ja" Kritiker Null zu beeinflussen) aber vielleicht lebenslange Schmerzensgeld Zahlungen, Sozialdienste und Schulungen für den Täter ... .

  • "Eine queerfeministische Initiative namens „Nur Ja heißt Ja“ hielt am Freitag eine Mahnwache vor dem Gericht ab."

    Dieser Fall ist schrecklich, bestürzend und der lapidare Umgang der Polizei mit der Betroffenen ist bodenlos. Ich würde mir allerdings wirklich wünschen, solche Taten würden nicht jedes Mal von Leuten politisiert, die Forderungen stellen, die mit dem Fall selbst nichts zu tun haben.