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Urteil im Pelicot-ProzessMazan ist überall

Valérie Catil
Kommentar von Valérie Catil

Der Aufsehen erregende Prozess gegen Gisèle Pelicots Vergewaltiger endete mit milderen Strafen als erhofft. Hoffnung geht von diesem Fall trotzdem aus.

Gisèle Pelicot vor dem Gericht in Avignon nach dem Urteil Foto: Miguel Medina/afp

E s gibt eine Zeit vor und eine Zeit nach dem Pelicot-­Prozess. Davor dachte man, es handle sich um einen Einzelfall. Da dachte man, Vergewaltiger gestehen ihre Taten zumindest dann, wenn sie dabei gefilmt werden. Für die Zeit danach, die nun angebrochen ist, hoffte man, sie sei mit weniger Frauenhass, einer gerechten Justiz, mit einer veränderten und bewussteren Gesellschaft verbunden.

Das Urteil, das in Avignon vergangenen Donnerstag nach drei Monaten und 17 Tagen Prozess ausgesprochen wurde, ist ein Sieg, der zugleich ernüchtert und enttäuscht. Von den insgesamt 652 Jahren, die die Staatsanwaltschaft für die 51 Angeklagten forderte, wurden nur 428 vergeben. 224 Jahre lösen sich in Luft auf. Bis auf Dominique Pelicots Strafe wurden die für alle anderen gemindert, sechs Angeklagte sind auf freiem Fuß. „Mon client est libre!“, „Mein Klient ist frei“, ruft Maître Bruschi, Verteidiger von Joseph C., ins Gesicht der Demonstrierenden vor dem Gerichtssaal. Die skandieren: „Schande über die Justiz!“

Eine Vergewaltigung kann in Frankreich mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft werden. Kommen erschwerende Umstände hinzu, sind es bis zu 20 – so viel bekam nur Dominique Pelicot. 20 Jahre für die massenhafte Vergewaltigung seiner damaligen Frau, für das Filmen ohne ihr Wissen, für die Betäubung, für die Auslieferung an knapp hundert andere Männer – nur die Hälfte stand vor Gericht.

20 Jahre sind für dieses monströse Handeln ein Klaps auf die Finger. Ein Klaps mit einer absurden Konsequenz: Die Strafen der übrigen Angeklagten wurden in Relation zu seiner Strafe erwogen.

Romain V. etwa vergewaltigte Gisèle Pelicot sechsmal, ohne Kondom, obwohl er HIV-positiv ist. Er bekam 15 Jahre. Warum nicht die Höchststrafe? Nur weil er nicht Dominique Pelicot ist? Oder Saifeddine G.: Auf dem Video aus dem Schlafzimmer sah man, wie seine Hüfte sich vor- und zurückbewegte, jedoch hatte er nach eigenen Angaben keine Erektion.

Weil er Gisèle Pelicot nicht erfolgreich penetrieren konnte, bekam er drei Jahre. Ist es also keine Vergewaltigung, wenn der Mann seinen Spaß nicht kriegt? Philippe L. penetrierte Pelicot nur mit dem Finger und bekam deswegen fünf Jahre. Ist die Pene­tration mit dem Finger eine Drittelvergewaltigung?

Über diese Fragen zu meditieren, ist als Frau schmerzhaft. Und sinnlos, wenn man bedenkt, dass es eine gute Studienlage dafür gibt, das härtere Strafen nicht davor abhalten, kriminell zu werden. Zudem vergisst man dabei, dass der Prozess ein riesiges Ziel erreicht hat: Keiner der 51 Angeklagten kommt unschuldig davon – auch nicht die 32 Männer, die darauf plädiert hatten. Gisèle Pelicot wollte, dass ihre Kinder und Enkelkinder diesen Nachnamen mit Stolz tragen können. „Wenn sich die Welt diesen Namen merkt, dann nicht wegen Monsieur Pelicot, sondern wegen mir.“ Auch das Ziel hat sie erreicht.

Der Prozess liefert eine Diskussion, die über das bloße Bestrafen hinausgeht. Er stellte von Beginn an die Möglichkeit für ein großes Aufwachen dar, welchen Gefahren Frauen ausgesetzt sind, realen Gefahren, die es nicht nur im provenzalischen Hinterland gibt.

Eine am Mittwoch veröffentlichte Recherche von STRG_F deckt ein internationales Netzwerk von Vergewaltigern auf der Messengerplattform Telegram auf. Sie geben einander in verschiedenen Chaträumen Tipps über die besten Betäubungsmittel, tauschen Bilder und Videos der Vergewaltigungen aus und lassen sich von anderen Mitgliedern Anweisungen geben, etwa darüber, in welche Körperöffnung oder mit welchem Objekt sie die betäubte Person als Nächstes penetrieren sollen. In der Gruppe sind knapp 73.000 Mitglieder, auch aus Deutschland. Man weiß also: Dominique Pelicot ist überall. Mazan ist überall.

Als STRG_F diverse Behörden, darunter das New York Police Departement, das deutsche Bundesjustizministerium, aber auch Innenministerin Nancy Faeser mit den Informationen konfrontiert, zeigen die sich recht desinteressiert. Die Telegram-Gruppen gibt es weiterhin, genau wie es coco.gg – die Seite, auf der Dominique Pelicot seine Frau im Raum „à son insu“ („ohne ihr Wissen“) anderen zur Vergewaltigung anbot – noch vier Jahre lang gab, nachdem Pelicot 2020 erwischt wurde.

Inadäquat, schlecht ausgestattet, gleichgültig. Eine unbequeme, aber zutreffende Beschreibung für diejenigen, die eigentlich Schutz und Gerechtigkeit für Opfer herstellen sollten. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass den Verantwortlichen Frauen nicht wichtig genug sind. Das System ist kaputt und muss repariert werden.

Doch bei aller Enttäuschung verdanken wir Gisèle Pelicot eine große Hoffnung. Als sie nach der Urteilsverkündung den Gerichtssaal verlässt und sich an die zahlreichen auf sie wartenden Medien wendet, endet sie optimistisch: „Ich habe nun Vertrauen in unsere Fähigkeit, gemeinsam eine Zukunft zu gestalten, in der Frau und Mann in Harmonie, gegenseitigem Respekt und Verständnis leben können.“ Auf dass diese Zukunft irgendwann eintritt.

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Valérie Catil
Gesellschaftsredakteurin
Redakteurin bei taz zwei, dem Ressort für Gesellschaft und Medien. Studierte Philosophie und Französisch in Berlin. Seit 2023 bei der taz.
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10 Kommentare

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  • 3 Zusätzliche Ängste entstehen: Frauen, die nicht mehr bereit sind Kinder zu bekommen, Herd zu versorgen & definitiv 100 % Zeit ihres Lebens verfügbar zu sein, werden „Mangelware“. Die Ressource Frau steht nicht mehr jedem Mann zur Verfügung. Also entstehen zur Emanzipation der Frauen Gegenkulturen wie Incels & Co, welche sich von Andrew Tate einreden lassen, dass Frauen eine verfügbare und zu dominierende Ware sind. Gefördert werden solche abstruse Anschauungen noch von nationalistischen Strömungen, die ohnehin das Mittelalter romantisieren. Das Resultat sind immer ausgefeiltere & perfidere Konstrukte sich der Frauen zu bemächtigen oder gleich offene Ausbrüche von Gewalt, geschützt im hegemonialen männlichen Umfeld wie die Kölner Domplatte, Übergriffe bei Festivals, Lindemanns Suck-Box oder eben Angriffe in einer Horde von Hooligans. Final auch der neueste Trend: Da das verfluchte Weib partout nicht kuschen möchte, sie gleich komplett zu betäuben, um auch endlich alles mit ihr machen zu können, wofür Mann im bewussten Zustand keine Zustimmung hätte. Es geht um Macht, um Unterdrückung um Beweisen der eigenen Potenz & ist er schlaff, dann wird’s kriminell. Simpel & traurig zugleich.

  • 2 Über die Objektifizierung des ehemaligen Triebs nach der Brust / Wärme / Versorgung durch die Mutter hin zur Objektifizierung der Frau, welche dann besessen werden will, um den eigenen Bedürfnissen & Befriedigungen zu dienen. Dabei immerzu in Sorge zu Versagen wandeln sich diese Ängste in Neid & Hass für deren Abfuhr natürlich nur der weibliche Körper dienen kann (in) den man(n) begehrt zurückzukehren. Diese Ambivalenz von Begehren & Verachtung, Bedürfnis & Abwertung äußert sich dann in Grausamkeit & führt anschaulich in Taten wie Pelicot oder auch das kürzlich durch STRG+F aufgedeckte Netzwerk. Erschwerend hinzu kommen, wenn auch in manchmal zurückschwappenden Wellen die Erstarkung & Emanzipation von Frauen im Allgemeinen, so wie das Sichtbarwerden einzelner Frauen in Spitzenpositionen, das sich etablierende Selbstbewusstsein von Frauen, die sich eben nicht mehr der Ehe zur Verfügung stellen. Das ist im männlichen Weltbild, welches sich seit Jahrhunderten darauf beschränkt seinen Besitz & die Frau als Teil davon zu betrachten, nicht vorgesehen.

  • 1 Für Interessierte & Einblicke in das WARUM empfehle ich Rolf Pohl „Feindbild Frau: Männliche Sexualität, Gewalt und die Abwehr des Weiblichen“. Er schreibt anschaulich über die Abwertung des weiblichen Geschlechts neben der Idealisierung des eigenem, welche inhaltlich für die männliche Geschlechtsidentität stehen. Dabei ist stets die eigene Potenz & die Vorherrschaft über das andere Geschlecht im Vordergrund. 88 % der deutschen Männer haben unbewusst Angst vor Frauen, 84 % Angst vor Potenzversagen, da muss es zwangsläufig zu Kompensationshandlungen kommen die mE. auch ursächlich sind für den „Backlash: Die neue Gewalt gegen Frauen“ (Susanne Kaiser). R. Pohl wirft einen psychoanalytischen Blick auf die teilweise brutale aber im Patriarchat etablierte Abspaltung der Jungen von der Mutter hin zum Vater (wenn vorhanden) oder anderen männlichen Vorbildern. Diese „Initiation“ geht nicht selten mit der Abwertung des Weiblichen / Schwachen einher, hin zur Erstarkung (im mehrfachen Sinne) des eigene Geschlechts.

  • Danke, Madame Pelicot und alles Gute!

  • Sicherlich ist der Prozess dahingehend ei. Erfolg, dass er ein Bewusstsein für die Gefahren geschaffen hat - insbesondere eben, dass Vergewaltiger aus der Mitte der Gesellschaft sind und keine schnurrbärtigen Schurken sind.

    Allerdings fehlt mir immer noch eine ernstzunehmende Diskussion über die Ursachen. Es wird viel über toxische Männlichkeit und das Patriachat geredet - und richtig ist, dass diese zur Deckung der Täter beitragen.

    Was wir aber nicht beantworten: Warum tun manche Männer so etwas überhaupt? Wie kommt es, dass Männer ihre Freiheit, ihr Ansehen, ihre Familien usw. aufs Spiel setzen für einen kurzen Kick?

    Irgendwas lässt mich daran Zweifeln, dass man das allein auf die gesellschaftlichen Verhältnisse reduzieren kann. Wenn wir wirklich verhindern wollen, dass so etwas wieder und wieder passiert, bleibt uns wohl leider nicht viel übrig die psychologischen Ursachen bei den Tätern besser zu verstehen. Diese Diskussion fehlt mir gerade völlig - das allein auf den gesellschaftlichen Sexismus zu schieben, halte ich für zu kurz gehriffen.

    • @Sebomark:

      Genau. Warum machen Leute so etwas?

      Vergessen Sie die Angst vor Strafe. Das hält niemanden ab. Kriminelle glauben nicht, dass sie gefasst werden.

      Aber warum erfreut so viele Menschen Grausamkeit? Erziehung, Genetik, Epigenetik, was? Ich kann es nicht fassen.

      • @Patricia Winter:

        Ich würde die Beweggründe von solchen Vergewaltigern auch eher mit Drogensüchtigen als mit Kriminellen gleich setzen. Natürlich nicht moralisch, aber psychologisch: Es ist ein Zwang. Es ist Empathielosigkeit und Narzissmus u.v.m.

        Dass Frauen sich auf eine gute Strafverfolgung und eine gesellschaftliche Aufmerksamkeit (und Ächtung) verlassen können ist natürlich richtig und wichtig. Aber man wird damit vermutlich nur einen Teil der Taten verhindern.

        Im Kern muss man bei den Tätern ansetzen. Und da in die Forschung investieren, um Methoden zu entwickeln, die potenzielle Tätern hilft auf dem richtigen Weg zu bleiben,

        • @Sebomark:

          Zwang trifft es. Danke, sehr erhellend.

    • @Sebomark:

      Das Verhalten dieser Männer ist auf eine Mischung verschiedener Ursachen zurückzuführen. Weit verbreitete Kinderfeindliche Prämissen beim Umgang schon mit Säuglingen, unrealistische Geschlechtsrollen, ein in weiten Teilen der Welt verbreiteter auf Gewalt und Herrschaft beruhender Respektbegriff, Macht und sexuelle Gewalt als Statussymbol, Gruppendynamik, Frauenhass und solches Zeug.

      • @aujau:

        Ich gebe Ihnen in Teilen recht, dass diese Punkte such Ursachen sind. Aber ich bin nicht überzeugt, dass unsere gesellschaftlichen Verhältnisse alleinige Ursache sind - einfach weil es keine Gesellschaft ohne sexuelle Gewalt gibt und umgekehrt aber auch der Anteil dieser Täter an der Gesellschaft zu gering ist.

        Sicherlich ist die Gesellschaft Trigger und Supporter für diese Täter: Aber es muss da schon auch eine psychiatrische Störung mit im Spiel sein. Anders kann ich es mir schwer erklären.